«Guten Tag, ich habe gleich ein Interview mit Hilary Swank», sage ich, «bloss fünf Minuten lang. Aber alleine.» «Nein, haben Sie nicht», sagt die italienische Dame, die in Locarno Hilary Swanks Begegnungen mit der Presse beaufsichtigt. «Doch!» «Nein.» Ich zweifle. An ihr. An mir. An meiner Fähigkeit, mir Termine richtig zu merken. Ich zeige der Dame meinen Pressepass. Ihr Ausdruck wechselt von ungehalten zu bestürzt: «Ach so! Wir haben einen Mann erwartet!» Klar. Das mal wieder. Weil Simone in Italien ein Männername ist. Alles gut.
Und: Wie passend zu Hilary Swank, die damit weltberühmt wurde, dass sie vor zwanzig Jahren in «Boys Don't Cry» einen Transmann spielte. Brandon Teena. Den es wirklich gegeben hatte. Der 1972 als Teena Brandon in Lincoln, Nebraska, zur Welt gekommen war und 1993 von ein paar Rednecks grausam ermordet wurde, regelrecht gelyncht, weil er nicht war wie die Mehrheit, zu der er so gerne gehören wollte. Die Rolle wurde 2000 Hilary Swanks erster Oscar. Der zweite kam fünf Jahre später als grausam zugerichtete, ihren Verletzungen erliegende Boxerin in «Million Dollar Baby».
Jetzt ist Mittag. Am Morgen hatte Swank schon vor Publikum erzählt, wie es ist, einen Oscar zu gewinnen: «Das ist ein Gefühl, als würde man aus einer Kanone geschossen. Man macht einen kleinen Film, dann passiert sowas, und man denkt: Whaaaat?! Ich musste regelrecht aus meinem Kopf rausfinden, um mich wieder auf die Arbeit konzentrieren zu können, um wieder zurück in den Sandkasten zu gehen und zu spielen.»
Ihre Dankesrede für den «Million Dollar Baby»-Oscar ist legendär: «Ich weiss nicht, was ich in diesem Leben richtig gemacht habe, um all das zu verdienen», sagte sie, «ich bin bloss ein Mädchen aus einem Trailer-Park, das einen Traum hatte.» Der Trailer-Park, die typische, ärmliche, amerikanische Wohnwagen-Siedlung, war ihre Chance als Schauspielerin, sagt sie in Locarno. Denn Schule und Bildung standen für ihre Eltern nicht zuvorderst, als sie sagte, sie wolle Schauspielerin werden, hiess es nicht: Mach erst die Schule fertig.
Und dann sind die fünf Minuten mit ihr alleine also da. «Ms Swank, wie Brandon Teena sind Sie in Lincoln, Nebraska, geboren. Können Sie uns einen Eindruck geben, wie das damals war?» – «Ich kam zwei Jahre nach Brandon Teena im gleichen Spital zur Welt. Abgesehen davon bin ich allerdings im Staat Washington aufgewachsen. Aber ich wurde mit den Moralvorstellungen des Mittleren Westens erzogen. Die Leute von dort gehören zu den besten, sind das Salz der Erde, einfache Menschen, natürlich hat mich das zu der gemacht, die ich bin.» Der Mittlere Westen also. Dort, wo Trump 2016 haushoch gewann.
Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Der amerikanische Präsident hat gerade den Film «The Hunt» von den Leinwänden weggetwittert. Die Gewaltsatire über Trumpwähler, die von elitären Liberalen gejagt werden, hätte am 27. September in die Kinos kommen sollen. In der Hauptrolle: Hilary Swank. Universal Pictures entschliesst sich in diesem Moment, «The Hunt» nicht in die Kinos zu bringen.
Trump hatte den Independent-Film von Regisseur Graic Zobel und Drehbuchautor Damon Lindelof («Lost», «The Leftovers») mitverantwortlich für Waffengewalt in Amerika gemacht und unter anderem Folgendes getwittert: «Das liberale Hollywood ist zutiefst rassistisch and voller grossem Zorn und Hass. Sie nennen sich gerne ‹Elite›, aber sie sind keine Elite. Es sind oft die Menschen, die sie so stark bekämpfen, die in Wahrheit die Elite sind. Der Film, der herauskommt, ist gemacht, um einen Brand zu legen und Chaos zu erzeugen. Sie schaffen ihre eigene Gewalt und versuchen, anderen die Schuld zu geben. Sie sind die wahren Rassisten und sehr schlecht für unser Land.»
Liberal Hollywood is Racist at the highest level, and with great Anger and Hate! They like to call themselves “Elite,” but they are not Elite. In fact, it is often the people that they so strongly oppose that are actually the Elite. The movie coming out is made in order....
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) August 9, 2019
....to inflame and cause chaos. They create their own violence, and then try to blame others. They are the true Racists, and are very bad for our Country!
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) August 9, 2019
Doch davon wissen wir in Locarno nichts. Wo ich gerade das Gefühl habe, dass Brandon Teena, wenn er heute leben würde, selbst Trump-Wähler sein könnte. «Das Interessante an Brandon Teena ist ja, dass er selbst ein Redneck, ein Cowboy, ein Teil des ganz traditionellen Mittleren Westens sein wollte», bemerke ich. «Nun, das ist eine sehr europäische Sicht auf jemanden, der von da kommt. Ich sehe das nicht so. Ich denke, er lebte einfach sein Leben, gab und empfing Liebe, ein einfacher Mensch aus dem Mittleren Westen.»
«Sie wiederholen den Ausdruck ‹ein einfacher Mensch›. Was verstehen Sie darunter?» – «Einfache Menschen sehnen sich nicht danach, wegzukommen, sie schätzen Grund und Boden, sind herzerwärmend. In meiner Verwandtschaft gibt es viele Bauern, die sind so. Sie stehen auf, haben Familie, gehen zur Arbeit, kommen gerne heim, essen zusammen. Es ist kein wahnsinnig dynamisches Leben, heisst aber nicht, dass es langweilig ist.»
In New York setzte sich Hilary Swank zehn Jahre lang ganz offiziell für junge Menschen aus der LGBTQ-Community ein. Gründete eine Schule, an der sie keine Diskriminierung zu befürchten hatten. Half ihnen bei der Wohnungssuche. Redete mit ihnen und für sie. Führte die Gespräche über sexuelle Orientierung, die «Boys Don't Cry» weltweit eröffnet hatte, weiter. Auch heute, auch in Locarno, treffe sie Menschen, die sagen, dass ihnen der Film das Leben gerettet oder den Mut gegeben habe, ihre Leben zu leben. «Ich habe den jungen Menschen in New York geholfen, für ihre Rechte zu kämpfen, für Rechte, die jeder Mensch haben sollte.» Rechte, die Brandon Teena das Leben gerettet hätten.
«Er war unterdrückt, er wurde grausam ermordet dafür, wie er das Leben sah. Im Film trat ich in seine Fussstapfen. Das war sehr intensiv, aber trotzdem sehr oberflächlich. Schliesslich konnte ich danach wieder in mein Leben als Frau, mit der sich die Leute mühelos identifizieren können, zurückgehen. Verbrechen wie dieses geschehen immer noch, und ich verstehe nicht, woher die Feindseligkeit, der Hass kommen. Dagegen kämpfe ich.» Vielen Dank für diese fünf Minuten, Hilary Swank.
Danach beantwortet sie noch ein paar Minuten lang die Fragen von einem ganzen Rudel Journalisten. Die Frauenfrage: «Frau zu sein, fühlt sich oft an, als wäre man ein Bürger zweiter Klasse, und nur, weil wir lernen, uns ein Leben lang zu arrangierten, macht es das nicht besser.» Die Frage, ob sie sich als Filmproduzentin und Schauspielerin mit der Wahl ihrer Stoffe und Rollen aktuell gegen Trump richten würde: «Ich mache meine Arbeit nie von einem amtierenden Präsidenten abhängig. Ich erzähle Geschichten über Underdogs und setze mich für Menschenrechte ein.» Doch genau das ist ihre Arbeit im Fall von «The Hunt»: vom amtierenden Präsidenten abhängig.
Und schliesslich ist da noch die Frage nach der Disziplin, die sie für einige ihrer sehr physischen Rollen brauchte. Etwa für die legendären 29 Pfund Muskelmasse, die sie sich für Clint Eastwood antrainierte: «Disziplin, Aufmerksamkeit, Offenheit und Durchhaltewillen sind superwichtig für alles, was man erreichen will», lautet ihre Antwort.
Zum Glück hat sie eine Minute vorher noch von einem Pain au chocolat geschwärmt, das sie ihrem Hotel in Locarno, das sonst eher auf zuckerfreie Gesundkost bedacht sei, abgeluchst hat. Ganz so kantig wie in ihren Filmen muss dann im Leben doch nicht alles sein.
Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um eine aktualisierte Fassung des Artikels vom 10. August.