Leben
Schweiz

Unfruchtbarkeit bei Mann und Frau – Gründe und Behandlungsmöglichkeiten

(un)erfüllter Kinderwunsch

«Viele haben ein extremes Misstrauen in die Fortpflanzungsmedizin»

Werden wir immer unfruchtbarer? Oder sind wir zu gestresst, um Kinder zu bekommen? Und warum wird so wenig darüber geredet? Ein Gespräch mit einem Reproduktionsmediziner und einer Pflegewissenschaftlerin.
17.07.2023, 05:5817.07.2023, 20:52
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Weltweit ist jede sechste Person im gebärfähigen Alter zumindest teilweise unfruchtbar. Dies geht aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Die Organisation mit Sitz in Genf fordert eine dringende Verbesserung des Zuganges zu Kinderwunschbehandlungen.

«Die hohe Anzahl der Betroffenen zeigt, dass der Zugang zu Fertilitätsbehandlungen ausgeweitet werden muss und dass dieses Thema in der Gesundheitsforschung und -politik nicht länger verdrängt werden darf, damit sichere, wirksame und erschwingliche Wege zur Elternschaft für alle zur Verfügung stehen», liess sich WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus zitieren.

Punkto Fortpflanzung fährt die Schweiz einen restriktiven Kurs. Das Thema rückt auf der politischen Agenda trotz Bestrebungen immer weiter nach hinten – dies, obwohl Unfruchtbarkeit von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit definiert wird. Um das Thema ganzheitlich zu betrachten und womöglich rechtliche Grenzen mit konkreten Verbesserungsvorschlägen zu durchbrechen, hat die Pflegewissenschaftlerin Madeleine Bernet das Forschungsprojekt HoPE ins Leben gerufen.

Pflegewissenschaftlerin Madeleine Bernet von der Berner Fachhochschule und Alexander Quaas, leitender Arzt für Reproduktionsmedizin und gynäkologische Endokrinologie, am Universitätsspital Basel.
Pflegewissenschaftlerin Madeleine Bernet von der Berner Fachhochschule und Alexander Quaas, leitender Arzt für Reproduktionsmedizin und gynäkologische Endokrinologie, am Universitätsspital Basel.bild: watson

In der Schweiz ist die Nachfrage nach Unfruchtbarkeitsbehandlungen gestiegen. 2021 ist in der Schweiz jedes dreissigste Kind mittels einer künstlichen Befruchtung zur Welt gekommen. Werden wir immer unfruchtbarer?
Alexander Quaas: Gewissermassen schon. Zu einem kleinen Grad führen Fertilitätsbehandlungen dazu, dass sich die Unfruchtbarkeit vererbt. Warum heutzutage aber mehr Behandlungen in Anspruch genommen werden, hat verschiedene Gründe. In unserer Gesellschaft wird das Kinderkriegen immer weiter aufgeschoben. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Geburt wird immer höher. Dann ist es meist nicht mehr so leicht, direkt schwanger zu werden. Andererseits gibt es immer mehr Behandlungsmöglichkeiten – beispielsweise neue Verfahren beim Einfrieren von Eizellen. Hinzu kommt, dass die Thematik stärker ins Bewusstsein der Menschen gerückt ist und nun auch gleichgeschlechtliche Paare Anspruch auf Samenspenden haben.

Wie wirken sich Umwelteinflüsse auf die Fertilität aus?
Alexander Quaas: Wissenschaftlich ist es schwierig, einen Kausalzusammenhang zwischen Umweltgiften und einem Rückgang der Unfruchtbarkeit zu finden. Aber im grossen Ganzen haben Umweltfaktoren sicher einen Einfluss.
Madeleine Bernet: Aus der Praxis kann ich sagen: Betroffene sind aber stark auf diese Thematik sensibilisiert: Sie wechseln beispielsweise den Induktionsherd aus, verzichten auf die Sitzheizung im Auto, trinken keine Getränke aus Plastikflaschen.

Und welchen Einfluss hat Stress?
Alexander Quaas: Wissenschaftlich gibt es keine Belege dafür, dass sich Stress negativ auf die Fruchtbarkeit auswirkt. Das lässt sich aber auch nur schwer beweisen. Ich glaube aber biologisch gesehen nicht, dass Stress einen grossen Einfluss auf die Unfruchtbarkeit hat.

Kann man Unfruchtbarkeit vorbeugen?
Alexander Quaas: Eine direkte Vorbeugung gibt es nicht. Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch rate ich zu einem gesunden Lebensstil: ausgewogene Ernährung, Alkohol und Nikotin reduzieren oder vermeiden.

Was bedeutet eine Unfruchtbarkeit konkret für den Mann? Gibt es da gesellschaftliche und soziale Unterschiede?
Alexander Quaas: Viele Männer haben oftmals Mühe damit, ihre Spermien mittels eines Spermiogramms zu untersuchen, sie fühlen sich dadurch in ihrer Männlichkeit bedroht. Bei einer Diagnose von qualitativ nicht so guten Spermien entwickeln viele Komplexe, verspüren einen gewissen Ärger und fühlen sich unvollständig. Was biologisch eigentlich gar keinen Sinn ergibt. Wie der eigene Körper funktioniert, darüber hat man praktisch keine Kontrolle. Vergessen gehen Männer vor allem, wenn Probleme bei Frauen auftreten und sie sich hilflos fühlen. Noch so gerne würden sie den Frauen all die Spritzen und Behandlungen abnehmen.

Zu den Personen
Alexander Quaas ist leitender Arzt der Reproduktionsmedizin und gynäkologischen Endokrinologie (RME) am Universitätsspital Basel. Madeleine Bernet ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studienleiterin im Fachbereich Pflege an der Berner Fachhochschule.

Reichen die zulässigen Methoden der Reproduktionsmedizin oder sollte in der Schweiz mehr möglich sein?
Alexander Quaas: In der Schweiz sind die Gesetze der Reproduktionsmedizin noch sehr restriktiv. Viele weichen für Behandlungsmöglichkeiten, die hierzulande nicht zulässig sind, ins Ausland aus. Meiner Meinung nach gibt es keine Zweifel, dass beispielsweise die Eizellspende unter guten Richtlinien erlaubt wird. Wichtig ist aber vor allem der Stellenwert der Reproduktionsmedizin der Gesellschaft.

Inwiefern?
Alexander Quaas: Zum einen haben in meinen Augen viele Menschen noch immer ein extremes Misstrauen in die Fortpflanzungsmedizin: Sie denken, wir arbeiten mit völlig unnatürlichen Methoden, kreieren ein künstliches Teufelswerk à la Frankensteins Monster. Zum anderen wird uns oft vorgeworfen, die Behandlungsmethoden seien reine Geldmacherei. Oftmals werden wir – die Reproduktionsmedizin – mit der plastischen Chirurgie gleichgestellt. Ich finde nicht, dass die Reproduktionsmedizin als riesiges Geschäft wahrgenommen werden sollte – es sei denn, man empfindet die medizinische Versorgung grundsätzlich als ein gigantisches Geschäft.

Hinsichtlich der Kostenübernahme sind die beiden Medizinzweige – plastische Chirurgie und Reproduktionsmedizin – praktisch gleichgestellt. Nur sehr wenige Unfruchtbarkeitsbehandlungen werden von der Krankenkasse übernommen. Sollte sich das ändern?
Madeleine Bernet: In Bezug auf die Kosten finde ich sehr spannend, dass die Personen, welche bei meiner Studie mitmachen, sich privilegiert fühlen, da sie sich die Behandlungen – insbesondere die künstliche Befruchtung – leisten können. Klar stellen die hohen Kosten auch Herausforderungen dar, aber viel mehr betonen sie die Ungerechtigkeit, dass nicht alle Betroffenen den gleichen Zugang zu Kinderwunschbehandlungen haben.
Alexander Quaas: Unfruchtbarkeit wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Krankheit definiert. Den Patient:innen sollte also auch der Zugang zu entsprechenden Behandlungen gewährt werden, so wie bei an anderen Krankheiten auch. Die Schweiz ist im europäischen Vergleich eine der wenigen Ausnahmen, welche sich nicht an den Kosten einer künstlichen Befruchtung beteiligt.

Wie kommt das?
Madeleine Bernet: Das hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen. Die Ablehnung innerhalb der Bevölkerung ist immer noch spürbar, vor allem, wenn einen das Thema nicht betrifft und die Familiengründung einfach umzusetzen war. Auch in Sachen Aufklärung hadert es. Kürzlich teilte mir eine Frau mit, ihre Mutter fürchtete sich davor, dass ihre Tochter aufgrund einer künstlichen Befruchtung Achtlinge bekommen würde. Das hat mir gezeigt: Es fehlt das nötige Wissen. Klar besteht eine gewisse Komplexität der Thematik, doch gerade über künstliche Befruchtungen, die in der Schweiz sehr häufig durchgeführt werden, sollte eine Gesellschaft entsprechend sensibilisiert werden.

Sie haben HoPE auf die Beine gestellt – ein Forschungsprojekt, welches die Bedürfnisse sowohl von betroffenen Personen als auch von Fachpersonen beleuchtet. Wie ist das Projekt zustande gekommen?
Madeleine Bernet: Das Projekt wird im Rahmen meiner pflegewissenschaftlichen Dissertation durchgeführt. Beruflich bin ich über das Thema Endometriose mit dem unerfüllten Kinderwunsch in Berührung gekommen. Auf die Thematik aufmerksam geworden bin ich aber auch, da ich Betroffene kenne. Die Studie verfolgt das Ziel, die Perspektiven, Erfahrungen und Bedürfnisse von betroffenen Personen mit Fertilitätsbehandlungserfahrungen und Fachpersonen, darunter Pflegefachpersonen, Hebammen und Mediziner:innen, welche in diesem Gebiet aktiv sind, zu erfassen und zu beschreiben. Damit soll die derzeitige Versorgung im Gesundheitssystem erörtert werden, um Vorschläge für mögliche Anpassungen auszuformulieren. Die Studie prüft zudem die Option der Einführung einer spezialisierten Pflege- oder Hebammenrolle und formuliert diesbezügliche Empfehlungen.

Was erhoffen Sie sich mit dem Forschungsprojekt?
Madeleine Bernet: Mein Ziel ist es, angewandte Forschung zu betreiben, sprich, die Resultate sollen einen tragfähigen Einfluss auf die Praxis haben. Das Forschungsprojekt beleuchtet eine Patient:innengruppe, die eher wenig Beachtung findet, jedoch oftmals stark belastet ist und sich alleine gelassen fühlt. Das Projekt generiert Daten zur aktuellen Situation im Bereich der Reproduktionsmedizin in der Schweiz aus der Perspektive von Betroffenen und Fachpersonen. Ein mir sehr wichtiger Aspekt ist auch die Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit, weshalb ich in meinem Projekt mit verschiedenen Berufsgruppen zusammenarbeite. Bei den Lösungsvorschlägen muss ich natürlich berücksichtigen, was – gerade hinsichtlich des Fachkräftemangels – realistisch ist.

Es war auch nicht ganz leicht, dein Projekt zu finanzieren?
Madeleine Bernet: In der Tat sind viele meiner Anträge abgelehnt worden, unter anderem, weil man die Thematik nicht als versorgungsrelevant gehalten hat. Von der Berner Fachhochschule habe ich eine Anschubfinanzierung (Förderinstrument) erhalten, der Rest wird durch Spendengelder und Eigenleistung finanziert. Einen grösseren «Zustupf» habe ich vom Berner Frauen Serviceclub Zonta Club Bern erhalten.

Die Studie ist seit 2022 im Gange und soll bis 2025 ausgewertet sein. Was sagen die Zwischenergebnisse?
Madeleine Bernet: Die geplante Studie besteht aus zwei Teilen, einer schriftlichen Umfrage und aus Interviews. Bei der schriftlichen Umfrage konnte ich 337 Personen einschliessen, das ist eine viel grössere Stichprobe als erwartet und zeigt mir nochmals die Wichtigkeit des Themas auf. Auch für die Interviews haben sich über 20 Personen und/oder Paare gemeldet, was mich enorm freut. Aktuell befinde ich mich noch in der Datenerhebungsphase, deshalb kann ich auch noch nicht allzu viel sagen. Es zeichnet sich aber ab, dass die Unfruchtbarkeit eine sehr grosse emotionale Belastung darstellt.

Zeichnen sich bereits Anpassungsvorschläge für das Gesundheitssystem ab?
Der emotionalen Belastung wird oftmals wenig Raum gegeben. Nicht, weil die Fachpersonen dies nicht wollen, sondern aus strukturellen Gründen. Ein Thema, das mir im Rahmen meiner Studie oft begegnet, ist die Begleitung nach einem negativen Schwangerschaftstest oder nach einer Fehlgeburt. Viele Frauen fühlen sich nach einem solchen Erlebnis alleine gelassen und ungenügend begleitet. Die Betroffenen wissen oftmals nicht, dass sie sich beispielsweise nach einer Fehlgeburt an eine Hebamme wenden können, es gibt auch gute Angebote wie kindsverlust.ch, die Informationen müssen aber zu den Betroffenen gelangen. Viele Betroffene wünschen sich zudem einen Austausch mit anderen Betroffenen. Ich denke, eine solche Peergroup in einer Institution aufzubauen, wäre eine Massnahme, aus der man einen grossen Nutzen ziehen könnte und die schnell und einfach umgesetzt werden kann.

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35 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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B-M
17.07.2023 09:59registriert Februar 2021
Solange der Zahnarzt nicht von der KK übernommen wird, sehe ich keinen Grund, warum die Fortpflanzungsmedizin von der Allgemeinheit bezahlt werden sollte.
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Hirngespinst
17.07.2023 07:26registriert August 2019
"Ich finde nicht, dass die Reproduktionsmedizin als riesiges Geschäft wahrgenommen werden sollte"
Ist es aber. Wie das ganze Gesundheitswesen.
Es zeichnet sich auch dort ab, dass sich irgendwann nur noch dann all das leisten kann, wer entsprechend verdient.
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Mäni99
17.07.2023 08:19registriert Februar 2020
Ich vermisse in diesem Artikel die Analyse ob die Fortpflanzungsmedizin in Anbetracht der Überbevölkerung Sinn macht. Oder auch wie diese mit der Möglichkeit einer Adoption vereinbar ist. Ich verstehe natürlich den Wunsch von Paaren Eltern zu werden.
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