Da ist das Glück. Kurz währt es. Dann kommt das Chaos, das wirbelt, wild und alles durcheinander. Bis es nicht mehr geht, finanziell nicht, körperlich nicht, auf allen Ebenen wird es existenziell.
Erschöpfung.
Es folgt ein Jahr des Haderns. Therapie. Bis sich der Stillstand langsam wandelt, zögerlich zur Zuversicht wird, in einem weiteren, strengen Jahr in Neuorientierung mündet. Zur Zufriedenheit führt.
Die Stimmung am Küchentisch in der Neubauwohnung am Zürcher Stadtrand kippt. Claudine Erny (34) und Michael Minutillo (37) werden ernst ob der Erinnerung an jene Zeit. Der von Barista Minutillo liebevoll gegossene Kaffee droht kalt zu werden.
Einzig Luca, der anders heisst, knabbert vom Stimmungswechsel unbeeindruckt weiter zufrieden auf Mamas Schoss an seinem Guetzli. Den Babyccino – klar, in einer Familie mit eigenem Kaffeeunternehmen fehlt der nicht – hat der Dreijährige längst getrunken.
Heute lebt das Paar eine gleichberechtigte Vereinbarkeit von Kind und Karriere. Erny sagt: «Immerhin: Die Taucher und Krisen brachten uns dahin, wo wir heute sind: zufrieden.» Die Familie habe den Rhythmus gefunden, inklusive einer klaren Grundstruktur, die es erlaube, «die noch immer häufig notwendigen Freestyle-Übungen zu stemmen».
Es gibt zwei Mama-Tage, einen Papa-Tag, zwei Kita-Tage. Samstag und Sonntag sind Familien-Tage, Lucas Favoriten.
Kommt dazu: die Freestyle-Übungen-Einspringer. Besser bekannt als: die Grosseltern.
Die Schweiz liegt beim Anteil der Kinderbetreuung durch Grosseltern und Nachbarn an der europäischen Spitze. Höher ist einzig Tschechien.
Das bestätigt auch Katja Rost, Professorin für Soziologie der Universität Zürich. Ihr Lehrstuhl hat 400 hochqualifizierte Paare in den Kitas von Zürich unter anderem zum Thema Kinderbetreuung befragt.
Ergebnis: «Die Grosseltern sind extrem involviert. In vielen Familien übernehmen sie zwei Tage Betreuung pro Woche», sagt Rost.
Erny und Minutillo erzählen ihre Geschichte, um andere Eltern zu sensibilisieren. «Wir mussten auf die harte Tour lernen, dass Kräfte endlich sind.»
Das viel gepredigte «Alles ist möglich» stimme nicht. Es möge eine Zeit lang möglich sein, sich selbst auszubeuten, tagsüber zu viel zu arbeiten, nachts wegen des Kinds zu wenig zu schlafen. Doch die Quittung komme.
2019 wird Erny schwanger. Sie und Minutillo arbeiten beide selbstständig in der Event-Branche. Beruflich läuft es. Sie planen, nach der Geburt gleichberechtigt zu je 50 Prozent zu arbeiten, das Kind zu je 50 Prozent zu betreuen. Unterstützung kommt, wo nötig, von den Grosseltern, so der Plan. Kita erst später.
Am 1. April 2020 kommt Sohn Luca zur Welt. Fast zeitgleich wie das Corona-Virus. Minutillo führt zusammen mit dem Bruder als selbstständiger Unternehmer das Event-Catering Barista Corado Zurigo. Innert einer Woche fallen sämtliche Aufträge für 2020 weg. Das gesamte Jahreseinkommen futsch. Als Firmen-Inhaber hat er kein Anrecht auf Kurzarbeit.
Plus ein Neugeborenes daheim.
Also arbeitet Erny mehr. Noch im Wochenbett klappt sie täglich den Laptop auf, «um meine Projekte irgendwie zu halten und die Geschäftspartnerin zu entlasten». Erny hat damals eine eigene GmbH, ist wie Minutillo im Event-Bereich tätig. Als Agentur betreut sie Projekte über mehrere Monate und Jahre. Die Unsicherheit der Kunden ist wegen der Pandemie gross, es wird umgeplant, verschoben, abgesagt, neu kalkuliert.
Nach dem bezahlten Mutterschutz steigt sie zu 50 Prozent wieder ein. «Mental zu 100 Prozent.» Rückblickend ein Fehler, sagt Erny. «Das würde ich nie mehr so machen. Es war zu früh, zu viel Arbeit.»
«Nichts im Leben einer Frau ist so einschneidend wie die Geburt eines Kindes und die darauffolgende Zeit, körperlich und hormonell betrachtet», sagt Soziologie-Professorin Rost.
Dass deshalb eine Mutter nach den nur 14 Wochen Mutterschutz eher bereit sei zu sagen, gut, ich verzichte einstweilen auf meine Karriere und reduziere im Beruf, sei nachvollziehbar.
Aus der oben erwähnten Befragung von 400 hochqualifizierten Paaren in Zürich geht ausserdem hervor: 70 Prozent der Mütter legen nach dem bezahlten Mutterschaftsschutz eine zusätzliche Erwerbspause ein. Diese beträgt bei 60 Prozent der Frauen nicht länger als sechs Monate. 20 Prozent der Frauen bleiben ein Jahr daheim.
92,8 Prozent der Mütter halten den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschaftsschutz für zu kurz. 72,1 Prozent wünschen sich einen von mindestens einem halben Jahr, 22,8 Prozent von einem Jahr.
Minutillos Kaffee-Familienunternehmen droht bald nach Beginn der Corona-Krise der Konkurs. Er arbeitet rund um die Uhr. Versucht, das Geschäft zu retten.
Das Kind leidet die ersten Monate an Koliken, schreit viel. Erny betreut es, zusätzlich zu ihrem Job, mehr oder weniger allein. Hilfe von Aussen, etwa der Grosseltern – wegen Corona nicht möglich.
Minutillo erinnert sich: «Während im Herbst 2020 alles auf einen zweiten Lockdown hinsteuerte, steckten wir unser Erspartes in einen neuen Verkaufsstandort.» Sie bauen am Bahnhof Oerlikon eine Espresso-Bar auf. Da wegen der Pandemie kein Personal angestellt werden kann, stehen die Minutillo-Brüder selber an der Kaffee-Maschine.
Minutillo verlässt die Wohnung frühmorgens, fällt spätabends todmüde ins Bett. Oft im Gästezimmer.
Care-Arbeit ohne Ende, zusätzlich Lohn-Arbeit – der Druck, das einzige Einkommen der Familie zu erwirtschaften plus die unsichere Zukunft des eigenen Unternehmens – Ernys Kräfte schwinden.
Bis es nicht mehr geht.
«Ich hatte einen Zusammenbruch, der Arzt diagnostizierte eine Erschöpfungskrankheit, ein Burn Out», sagt sie.
Erny zieht die Notbremse. Verlässt ihre selbst aufgebaute GmbH. Meldet sich arbeitslos. Ist krank. Kümmert sich um Kind und Haushalt.
Plötzlich leben Erny und Minutillo das klassische Familien-Modell aus den 1950er-Jahren. Es verschafft ihnen die dringend benötigte Atempause. Eine klare Rollenverteilung.
Erny ist Vollzeit-Mutter, Hausfrau und auf Stellensuche. Minutillo der Ernährer – allerdings fast ohne Einkommen.
Sie hangeln sich so durch. Leben von Ernys Arbeitslosengeld und Erspartem.
Minutillos Tiefpunkt folgt ein Jahr später im Januar 2022. Die Jahresrechnungen müssen bezahlt werden. Doch mit was? «Finanziell war es prekär, wir hatten kaum mehr Geld. Ich war erschöpft vom Dauer-150-Prozent-Pensum, sah meinen Sohn kaum und machte mir Sorgen um Claudine.»
Die Erlösung kommt im Februar 2022. Der Kanton zahlt der Firma Corado GmbH rückwirkend Lohnausfälle.
Erny geht es zu jenem Zeitpunkt dank Therapien und später Coachings gesundheitlich besser. Doch sie hadert mit ihrer beruflichen Situation. Wird zunehmend unzufriedener mit dem klassischen Familienmodell. «Seit ich 16 war, habe ich gearbeitet.»
«Die Erkenntnis, dass ich für meine Care-Arbeit keine Anerkennung bekomme, traf mich hart.» Und der «Mental Load», diese unendliche Liste an To-Do's im Kopf sei an ihr allein hängen geblieben.
Sie will wieder arbeiten, aber was?
«Wir beobachten aus der Forschung, dass in Wohlfahrtsstaaten wie der Schweiz die Wahlfreiheit zu einem Dilemma führt», sagt dazu Professorin Rost von der Uni Zürich.
Mütter wollten ihre Karriere trotz Kind weiter vorantreiben und verfolgen, gleichzeitig den Nachwuchs aber auch aufwachsen sehen. «Das führt bei nicht wenigen Frauen zu einer Unzufriedenheit.»
Im Gegensatz zum 1950er-Jahre Modell müssten die Mütter heute zusätzlich Erwartungen ausser Haus erfüllen. Das könne zu einem Gefühl der «eierlegenden Wollmilchsau» führen.
Doch auch beim Modell mit Teilzeit-Karrieren beider Partner gehe es nicht ohne Abstriche. «Das ‹Du kannst alles haben› stimmt nicht», sagt Rost.
Geld könne Zeit nicht kompensieren. Und umgekehrt.
Zurück zu Familie Erny-Minutillo in den Frühling 2022. Beide sind unglücklich, überfordert, diskutieren viel.
«Da wir aus der gleichen Branche kommen, hatten wir zum Glück stets Verständnis für die Situation des anderen», sagen beide. «Unsere Beziehung wurde nie destruktiv.»
Minutillo leidet darunter, dass er kaum als Vater da sein kann vor lauter Arbeit. Vermisst Kind und Frau. Erny vermisst Bezahl-Arbeit. «Wir realisierten: Wir wollen gleichberechtigter sein. Sonst leidet die Paarbeziehung.»
Plus hat das Warten nach einem Jahr endlich ein Ende, sie bekommen einen subventionierten Kita-Platz.
Die Kita, ein zentraler Pfeiler bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Zahlen zeigen, die Vereinbarkeit funktioniert bei einer Mehrheit nur mit familienergänzender Kinderbetreuung. Und da es das berühmte Dorf, welches es fürs Aufwachsen des Kinds braucht, kaum mehr gibt, macht inzwischen die Kita den Hauptteil an Fremdbetreuung aus.
Die hohen Kosten sind laut einer CS-Studie von 2021 ein wichtiger Grund, warum nicht mehr Eltern eine Kita in Anspruch nehmen. Ein Kitaplatz kostet hierzulande pro Tag und Kind im Schnitt rund 130 Franken. Der Preis variiert je nach Region stark.
Von allen europäischen OECD-Ländern liegt die Schweiz bei den Kosten für externe Kinderbetreuung damit an der Spitze.
Auch dank Kita-Platz hat Erny wieder Kapazität für den Job. Sie leistet sich ab Juni 2022 eine vom Mund abgesparte Ausbildung zum Businesscoach & Projektleiterin, macht sich damit nach dem Abschluss diesen Sommer erneut selbstständig. Arbeitet 50 bis 60 Prozent.
Minutillo schraubt dafür beruflich zurück. Inzwischen läuft das Geschäft endlich wieder. Er arbeitet 80 Prozent. Möglich ist das auch dank der inzwischen sieben Teilzeit-Angestellten. Als Luca zwei Jahre alt ist, hat Minutillo «endlich seinen Papa-Tag».
Luca juchzt plötzlich auf vor Freude, zeigt zum Fenster. Draussen stehen Oma und Opa. Er wusste nichts von dieser Überraschung. Der Bub rennt ihnen entgegen. Sie hüten ihn an diesem Nachmittag, weil beide Eltern arbeiten müssen.
Luca, zuvor scheu, ist wie ausgewechselt. Hüpft und tobt durch die Wohnung, schleppt immer neue Spielsachen ins Wohnzimmer, um sie stolz vorzuführen. Und düst auf seinem «Töff», einem Holzvelo, umher.
Während die Grosseltern mit dem Enkel nach draussen spielen gehen, blicken Minutillo und Erny in die Zukunft. Kind Nummer 2 ist unterwegs. Die 34-Jährige ist im sechsten Monat schwanger. «Ein Geschwisterchen für Luca war schon länger ein Thema, die Kraft dafür aber fehlte uns lange.»
«Parat sind wir auch jetzt nicht, aber es stimmt für uns», fügt Minutillo hinzu. «Wir freuen uns riesig auf den Familienzuwachs.»
Das Paar hat Prioritäten gesetzt: Für die Familie und für mehr Zeit. «Dass wir finanzielle Abstriche machen müssen, nehmen wir in Kauf.» Ihr Modell funktioniert dank bezahlbarer Wohnung, Prämienverbilligungen und Kita-Subventionen. «Wir brauchen nicht viel und halten die Ausgaben so gering wie möglich.» Das befreie auch.
Da beide Teilzeit arbeiten, werden sie im Rentenalter Lücken in der Vorsorge haben. Besonders Erny. Das ist ihnen bewusst. «Uns anstellen zu lassen, wäre ergiebiger, klar. Und vielleicht auch entspannter.» Sie hätten nun einmal Jobs, die ihnen viel abverlangten. Sie dafür flexibler machten.
Ende Monat bleibt nicht viel Geld. Erspartes auf die Seite legen oder investieren - aktuell nicht realistisch.
Um das Renten-Loch zumindest etwas zu stopfen, versuchen sie wenn immer möglich, etwas in die 3. Säule einzuzahlen. Diese Beträge sind vom jährlich möglichen Maximalbetrag von 7056 Franken allerdings weit entfernt.
Jedes fünfte Paar mit einem Kind unter fünf Jahren lebt laut einer neuen Studie von Swiss Life im Konkubinat - mit erheblich höherem Vorsorgerisiko für die Mütter als bei Verheirateten. Rentnerinnen erhalten demnach knapp einen Drittel weniger Rente als Männer.
Unverheirateten Eltern empfiehlt Professorin Rost: «Regelt, wie ihr die Lohnausfälle - meist der Frau – bei Trennung und im Alter kompensiert.» Es möge unromantisch sein, doch aus emanzipatorischer Sicht rate sie allen, auf einen Konkubinatsvertrag zu pochen.
«Wenn ich zurückdenke, was wir durchgemacht haben: Ich bin stolz darauf, wo wir heute stehen.» Erny schaut Minutillo an, beide lächeln. «Ich habe sehr damit gehadert, dass ich im Beruf zurückschrauben muss. Doch beruflich nochmals durchstarten kann ich auch mit 40 Jahren.» Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus seien.
Minutillo: «Für mich gibt es das Geschäft und die Familie». Für mehr, etwa sein Sozialleben, habe es wenig Platz. Das fehle manchmal.
«Seit bald vier Jahren sind wir auf dieser crazy Reise namens Familie», sagt Erny. «Jetzt kann ich endlich sagen: Wir sind angekommen.» Minutillo nickt zustimmend. «Ich auch. Als Vater und Partner.»