13 Jahre lang habe er die Hölle erlebt, sagt Beat Furrer. Ganz konkret denkt er dabei an die Zeiten des kalten Entzugs. Die Tage und Wochen, in denen er seiner Krankheit mit striktem Verzicht entgegentrat. Als es darum ging, einfach nur durchzuhalten, den Körper vom Alkohol zu entwöhnen. Als er in den rund fünf Tagen des kalten Entzugs den Dämonen in Form von Depressionen, Angstzuständen, erdrückender Unruhe und ständigen Zittern begegnete.
Als Aussenstehender erinnern viele Episoden der vergangenen 15 Jahre im Leben von Beat Furrer aus Baltschieder bei Visp an eine Pforte zum Abgrund. Es war ein Leben am Limit. Beat Furrer nennt die Alkoholsucht «eine komplexe, heimtückische und hinterlistige Krankheit, die sich nicht auf einen einzigen auslösenden Faktor reduzieren lässt».
Seine Frau Ruth, mit der er seit 1989 verheiratet ist, hielt trotz häufiger Hilflosigkeit, vieler Enttäuschungen und grosser Belastungen in all der Zeit zu ihm. Alleine dies erscheint als Gipfelsturm gigantischen Ausmasses. «Dafür bin ich meiner Frau unendlich dankbar», sagt der Wirtschaftsinformatiker.
«Morgen höre ich auf», versprach er seiner Frau immer und immer wieder. Und Beat Furrer hielt sich an diese Gelübde, begab sich auf den Weg «durch die Hölle». Aber als sogenannter Quartalstrinker folgte auf den Entzug und eine temporäre Rückkehr ins normale Leben früher oder später der nächste Absturz. Rund 40 Rückfälle pflastern seine Leidenszeit.
Und diese waren für Nicht-Betroffene von einer schier unvorstellbaren Heftigkeit. Zum Beispiel mit einem Halt im Tankstellen-Stop frühmorgens auf dem Weg zum Therapeuten. Die gekaufte Flasche Weisswein war im Nu getrunken. Oder Einlieferungen ins Spital mit einem Alkoholgehalt von 3.6 Promille im Blut. Phasen von mehreren Wochen mit drei bis vier Litern Weisswein pro Tag.
Beat Furrer bezeichnet sich selbst als «Verstandesmensch». Er ist ein galanter Gesprächspartner, ein guter Zuhörer, ein äusserst kultivierter Mensch. Als persönliche Fähigkeiten nennt er analytisches Denken und strukturiertes Handeln. Zu diesen Eigenschaften passt die Art, wie er seine Alkoholsucht 2007 festgestellt hat.
Ihm fiel auf, dass er jeden Abend mit einem leichten Schwips ins Bett ging. Als Folge führte er eine Woche lang Trinkstatistik – mit dem Resultat, dass er bereits im Status «Alkoholmissbrauch» war. Sofort beschloss er, Hilfe zu suchen. Doch je mehr er ausprobierte, desto mehr bewirkte sie das Gegenteil. Die Abhängigkeit wurde heftiger. In seiner eigenen Art von Humor sagt er: «2017 war ich in der Alkohol-Szene im wahrsten Sinne des Wortes voll angekommen.»
Heute ist Beat Furrer von der Alkoholsucht genesen. Er kennt den Tag des letzten Absturzes genau: 19. März 2021. Auf Alkohol verzichtet der 62-Jährige nicht. Es ist für ihn wieder Genuss und nicht mehr Droge. «Viele Fachleute haben mir gesagt, eine Heilung sei nur mit strikter Abstinenz möglich. Ich habe nie akzeptiert, dass es nur diesen einen Weg geben soll.»
Am Ursprung seines Ausstiegs stand ein Buch. Seine Frau schenkte es ihm, als sie ihn bei einem der vielen Entzüge im Spital von Visp besuchte. «Mentaltraining für Läufer» des deutschen Sportpsychologen und Extremläufers Michele Ufer.
Aus der Lektüre des Buchs entsprang eine Faszination und das Ziel, das Laufen als Therapie zu nutzen und 2018 am Gornergrat Zermatt Marathon den Halbmarathon zu bestreiten. Es war sein erster Laufwettkampf über eine solche Distanz überhaupt.
Aus dem Spital heraus begann er mit Lauftraining. Doch so gross der Wille auf dem Weg zu diesem Ziel auch war, so hoch blieben die Hindernisse in Form von schweren Rückfällen bis kurz vor dem Lauf. Trotzdem schaffte es Beat Furrer bis ins Ziel. «Zu 75 Prozent habe ich diesen Lauf mental geleistet», sagt er rückblickend.
Geholfen beim Weg zurück aus der Hölle hat Beat Furrer auch die Ausbildung als zertifizierter Suchtberater am Anto-Proksch-Institut in Wien. Dort prägte sich ein Satz bei ihm ein: «Die Alkoholsucht ist eine gut behandelbare Krankheit». Das gab ihm erstmals nach 12 Jahren Kampf die Gewissheit, dass er es schaffen kann. Es war die Pforte zu einem gangbaren Weg.
Der Walliser schmunzelt, wenn er an die Erfahrungen dieses Suchtlehrgangs zurückdenkt. Die 24 Teilnehmenden waren zum grössten Teil angehende Ärzte oder Psychologen. «Ich war der einzige Praktiker. Man merkte in den Diskussionen auch, wie sehr Theorie und Praxis voneinander abweichen können.»
Dieser Weg aus der Abhängigkeit bestand aus vielen Puzzleteilen, die sich letztlich zu einem gelungenen Bild zusammensetzten. Ein Genesungsweg längst nicht ohne weitere Rückschläge, aber auch in Form eines grossen Lernprozesses. Zusammen mit dem Therapeuten und seiner Frau bezeichnete man den Ausstieg als «Projekt Mount Everest».
Beat Furrer wusste, dass er zwar unterwegs auf Hilfe zählen kann und diese für den Ausstieg auch von elementarer Bedeutung ist. Den Gipfel jedoch musste er ganz allein erreichen. «Da oben ist man mutterseelenallein und die Luft ist verdammt dünn», stellt er es bildlich dar.
Geholfen haben ihm zwei mentale Trainingsformen: die Schematherapie und die Emotionsregulationstherapie. Die Schematherapie bezweckt einen bewussten Blick in die eigene Vergangenheit. Man entdeckt unbewältigte Ereignisse aus der Kindheit und sich daraus abgeleitete Kompensationsstrategien. Im Rahmen der Therapie geht es um einen Veränderungsprozess dieses Verhaltens.
Bei der Emotionsregulation lernt man, Emotionen bewusst zuzulassen und damit umzugehen. Er habe dies erst im Alter von 58 Jahren gelernt. Zuvor verdrängte er seine ausgeprägt sensible Seite oder suchte die Flucht in den Alkohol. Heute kennt er die Grenze zwischen Lernzone und Panikzone. Diese darf er nicht mehr überschreiben. Das weiss er, das kann er auch.
«Mentales Training eignet sich vorzüglich, um negative Gedankengewohnheiten durch positive zu ersetzen». So stellt er sich zukünftige Vorgänge, zum Beispiel den Apéro bei Bekannten, bereits im Vorfeld vor und visualisiert sein eigenes Verhalten.
Beat Furrer sagt, er gehe mit einer zuvor nicht gekannten Leichtigkeit durchs Leben. Seine Sinne sind enorm geschärft. Er nimmt die Natur, die Umgebung mit ganz anderen Augen wahr, erfreut sich an Dingen, die während der Sucht keine Bedeutung hatten.
«Und der Sport hat mir den Ausstieg enorm erleichtert». Neben dem Halbmarathon stehen Fernwanderungen und Bergtouren ganz oben auf der Liste der Freizeitbeschäftigungen. Die Freude am Leben steht im Mittelpunkt, nicht mehr die Sucht. «Verhaltensweisen ändern sich. So wie es einen Einstieg zur Sucht gibt, gibt es auch einen Weg raus. Man kann das eigene Suchtgedächtnis überschreiben», sagt er.
Es sind verschiedene Gründe, wieso der frühere Projektleiter bei Lonza seine Geschichte nun öffentlich machen will. Zum einen will er die Menschen für diese Krankheit sensibilisieren. «Als ich 2002 an Krebs erkrankte, war die Anteilnahme riesig. Alle wollten helfen. Als ich später alkoholkrank wurde, wandten sich viele von mir ab, wurde ich teilweise als Aussätziger behandelt. Du bist das letzte Glied in der Gesellschaft. Dieser völlig unterschiedliche Blick auf zwei Krankheiten sollte nicht sein», sagt Furrer. Er wolle die Alkoholsucht «in ein besseres Licht stellen».
Ein weiterer Antrieb für ihn ist, zu helfen. Die Botschaft ist klar: Der Ausstieg aus der Alkoholsucht ist möglich. Die eigenen Erfahrungen, Umwege und Irrwege, aber auch Lösungen und neue Türen sollen andere ermutigen, es auch zu versuchen und dabei zu reüssieren. «Geht zu Profis, sucht Hilfe und verhindert so eine derart lange Leidenszeit, wie ich sie erfuhr», rät er Betroffenen.
Die Chemie zwischen dem Psychologen und dem Patienten müsse stimmen. «Wenn das nicht der Fall ist, sollte man sofort wechseln und nicht unnötig Zeit vergeuden.» Ihm hätten letztlich nur drei von mehr als einem Dutzend Ansprechpersonen wirklich helfen können.
Beat Furrer will seine Dienste als Suchtberater zur Verfügung stellen. «Immerhin habe ich mir ein riesiges Wissen über die Krankheit angeeignet». Auf seiner Homepage www.beat-furrer.com kann man seine Geschichte und allerlei hilfreiche Informationen nachlesen. Er möchte interessierte Betroffenen, welche ihre Sucht bekämpfen wollen, aber noch nicht überwunden haben, auf ihrem Weg unterstützen.
Den idealen Weg, wie er seine Erfahrungen und Dienste einbringen kann, sucht er noch. Geld verdienen wolle er damit nicht. Am Trailrunning-Festival in Arnsberg von Michele Ufer wird er im Herbst ein Referat halten.
Doch zuerst rennt Beat Furrer an der 20. Austragung des Gornergrat Zermatt Marathons diesen Samstag zum zweiten Mal nach 2018 rauf auf den Riffelberg. Beim ersten Mal war es eine reine Willensleistung, diesmal soll es Genuss sein. Genauso wie er danach ohne schlechtes Gewissen und ohne Angst vor einem Rückfall mit einem grossen Weissbier auf seine Leistung anstossen wird.
(aargauerzeitung.ch)
Etwas können wir alle tun, entweder wir helfen damit jemandem oder wir sind einfach freundlich: nicht nachfragen und keine (blöden) Bemerkungen, wenn jemand sagt, er:sie würde nicht trinken wollen. Kein "nur mal kurz anstossen", "bist du schwanger?", "auch nicht zu diesem Anlass?", "bist du sicher?" etc. Niemand braucht eine Begründung keinen Alkohol zu trinken, genau dies ist etwas vom heimtückisten an dieser Krankheit: keine andere Droge ist im Alltag so selbstverständlich und es gibt (trockene) Alkoholiker, die nicht aus Genuss trinken können.
2. Nach 40 Rückfällen würde ich nicht von „überwunden“ sprechen. Die Wahrscheinlichkeit für einen 40+n Rückfall ist extrem hoch