Das Mädchen Gertrud interessiert sich für vieles. Haushaltstätigkeiten gehören nicht dazu. Weshalb es beschliesst, ganz einfach nie zu heiraten. Wenn es nicht heiratet, muss es auch nicht kochen oder putzen. Es wird sich in dieser Hinsicht sehr treu bleiben. Viel lieber lernt es. Zuerst für die Matura, heimlich, jede Nacht bis drei Uhr. Tagsüber darf es nämlich nicht ins Gymnasium, sondern wird ausgerechnet im Haushalten unterrichtet.
Die Nachtschichten sind Gertruds Gesundheit nicht zuträglich, aber sie schafft die Matura. Und schreibt sich sofort an der Uni Bern ein. In Chemie. Studiert auch noch in Berlin. Beschliesst das Studium 1903 als 25-Jährige mit einer Summa-cum-Laude-Dissertation. Vollendet bereits zwei Jahre später ihre Habilitationsschrift im Bereich Geschichte der Chemie und Physik. Und wird 1907 zur ersten Dozentin für Chemie im deutschsprachigen Raum, aber noch lange nicht zur Professorin.
Einer Zeitung in Wien fällt auf, dass sie und ihr Vater, der Geschichtsprofessor Philipp Woker, jetzt beide an der Uni Bern unterrichten. Die Universität Leipzig bemüht sich um sie, eine deutsche Illustrierte kündigt sie bereits als den «ersten weiblichen Professor in Deutschland» an, doch sie bleibt in Bern. Was ziemlich sicher ein Fehler ist, denn die Berner Kollegen sind nicht drauf erpicht, die junge Frau, die in der internationalen Community beneidenswert ernst genommen wird, sehr viel weiter kommen zu lassen. Ihre Forschungsgelder sind mickrig, ihr Labor winzig, ihr Gehalt so klein wie nur irgendwie möglich.
Und dann beginnt sie sich auch noch für den Frieden einzusetzen. Für den Frieden! Wo sich der Erste Weltkrieg doch gerade für die chemische Industrie, an deren Fortschritt Forschende wie Gertrud Woker mitarbeiten, zu einer Goldgrube entwickelt. Der Berliner Chemiker Fritz Haber erhält den Auftrag, Gase zu finden, mit deren Hilfe der Feind aus den Schützengräben getrieben werden kann. Haber nimmt dafür Chlor – und macht daraus das auch als Senfgas bekannte Giftgas.
Im April 1915 setzen es die Deutschen zum ersten Mal im belgischen Ypern gegen die Franzosen ein: 1500 ersticken, Abertausende leiden unter schweren Verätzungen. Habers Frau, die Chemikerin Clara Immerwahr, erschiesst sich mit der Dienstwaffe ihres Mannes, als sie sieht, welches Monster seine Wissenschaft geboren hat.
In einem ärztlichen Leitfaden für Kampfgaserkrankungen heisst es: «Über der Lunge verbreitet hört man das feinblasige, kochende Ödemrasseln, die Kranken ringen ächzend und stöhnend nach Luft. In diesem Zustande bietet der Kranke für die Umgebung ein schaudervolles Bild des Jammers. Man sieht förmlich, wie der Kranke in der eigenen Flüssigkeit ertrinkt, die sich in die Lungen ergossen hat. Wer jemals einen Gaskranken in dem beschriebenen Stadium des Höhepunktes des Lungenödems gesehen hat, der muss, wenn er noch einen Funken von Menschlichkeit besitzt, verstummen.»
Nur eine Woche nach dem deutschen «Erfolg» bei Ypern findet in Den Haag der erste Frauenfriedenskongress der von Gertrud Woker mitbegründeten Women’s International League for Peace and Freedom statt. Tausend Frauen aus zwölf Ländern nehmen teil.
In den kommenden Jahren werden sie sich gegen den Einsatz von Chemikalien in Kriegen einsetzen. Nicht nur Männer sind am Giftgas gestorben, auch viele Neugeborene sind verkrüppelt und entstellt. Gertrud Woker wird dabei zur gefragten Vortragsreisenden. Sie schafft es, die komplizierte Materie für alle verständlich und sehr eindringlich darzustellen. 1919 nimmt die Women's League beratend an den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles teil.
1924 reist Gertrud Woker mit anderen Frauen der «Women's League» nach Amerika, sie mieten einen ganzen Eisenbahnwagen und bereisen, Vorträge haltend, die USA und Kanada. Bis zu 5000 Menschen hören ihnen gefesselt und entsetzt zu. Und der Protest gegen die Frauen nimmt zu. Die Kirche und die Industrie erklären die Aktivistinnen schlichtweg für verrückt.
Ein Jahr später reist Gertrud Woker erneut in die USA. Sie will an einem Institut in New Jersey arbeiten. Und gerät dort auf ein Minenfeld der geistigen Kriegsführung. Ihre Kollegen nennen sie eine deutsche Spionin und eine Kindsmörderin – einer von ihnen prahlt damit, sie geschwängert zu haben. Schliesslich verkündet der Institutsleiter, der selbst die Diabetes-Behandlung mit Insulin entdeckt hat, Gertrud Woker sei nicht mehr zurechnungsfähig und müsse in Zukunft von Wissenschaft und Politik ferngehalten werden.
Sie kehrt schwer traumatisiert und unter Verfolgungswahn leidend zurück. Aber natürlich gibt sie nicht auf. Am 7. Januar 1929 berichtet die «Neue Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Die modernen Kriegsmethoden» über eine Tagung in Frankfurt: «Abends fand eine ausserordentlich stark besuchte Massenkundgebung gegen den Giftgaskrieg statt (...). Gertrud Woker (Bern), die unermüdliche Pionierin im Kampf gegen den Giftgaskrieg, entwickelte mit schlichten und damit um so eindrücklicheren Worten das Schreckensbild eines kommenden Krieges. Sie zeigte, wie die Wirkung von Kriegswaffen durch die Gaskampf-Methoden ins Ungeheuerliche gesteigert würde.»
Und weiter: «Die Öffentlichkeit erfahre nur wenig von den Geheimnissen, die in den chemischen Laboratorien offenbar werden. (...) Die Gasschutzmittel seien heutzutage so gut wie wertlos. Durch die Methode, beim ersten Angriff Giftgase zu verwenden, die die erschreckten Menschen in die Keller treiben, um dann ein Gas folgen zu lassen, das schwerer ist als die Luft, und sodann in den Keller schleicht, werde jeder Schutz utopisch.» Überhaupt ist sie in Zeitungen wie der NZZ regelmässig präsent und gilt als hoch respektierte Koryphäe.
1932 erscheint ihr bahnbrechendes Buch «Der kommende Gift- und Brandkrieg und seine Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung», in dem sie Artikel und Reden aus früheren Jahren versammelt. Neben den wissenschaftlichen Passagen über Kampfgase widmet sie sich darin auch Themen wie Antimilitarismus, Wissenschaftsethik oder Lobbyismuskritik. Das Buch schlägt ein. Derart, dass es 1933 zu den von den Nationalsozialisten verbrannten Büchern gehört.
Der Berliner Professor Isidor Traube erkundigt sich in Bern, wieso eine derart brillante Kollegin noch keine Professur habe. Er äussert den Verdacht, dass Wokers pazifistisches Engagement, das doch gerade zu ihrem Meisterwerk geführt habe, in Bern ein Karriereverhinderungsgrund sei. Diesen Vorwurf kann sich Bern nicht gefallen lassen, und endlich, mit bereits 55 Jahren, wird Gertrud Woker ordentliche Professorin.
Und sie kämpft weiter. Für den Frieden. Gegen Giftgas. Für die Gleichberechtigung der Frau. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – was sie selbst nie erleben wird. Gegen bleihaltiges Benzin. Und natürlich auch gegen die neuste Kriegswaffe, gegen den Einsatz von Atomenergie. Wieder geht sie auf Vortragsreisen, die Scharen ihrer Fans wachsen und wachsen, manche wollen sie berühren und sich bei ihr bedanken.
Als alte Dame von 84 Jahren fährt sie noch zu einem Kongress in Moskau. Privat gilt sie als zunehmend verwirrt. Ihre eigene Familie bezeichnet sie als die verrückte Tante Trudi. Von Männern will sie ein Leben lang nichts wissen. Über Frauenbeziehungen ist nichts bekannt. In den Gedichten, die sie neben ihrer Arbeit schreibt, gibt sie sich geradezu ekstatisch naturverbunden. Die Natur ist ihre Zuflucht, ihr Heiligtum, das sie nicht für destruktive Zwecke instrumentalisiert wissen will.
«Im Alter sieht sie überall kranke Baumblätter, die vom Bleibenzin vergiftet wurden. Wenn sie ein Flugzeug sieht, fürchtet sie sich vor einem Giftgasangriff», schreibt die «Berner Zeitung» vor ein paar Jahren. Das Irrenhaus, in das sie so viele verbannen wollten, holt sie erst kurz vor ihrem Tod mit 89 Jahren ein. Sie stirbt 1968 in der neuenburgischen «Nervenheilanstalt» Préfargier, wo sie auch kremiert wird. Ihre Urne wird jahrelang nicht abgeholt. Heute sind ihr zwei kleine Strassen in Bern und Düsseldorf gewidmet.