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Kulturgeschichte der Lüge: Warum sie schön ist

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bild: pikram/mr.babies/watson

Warum die Lüge etwas Schönes ist

In diesem zweiteiligen Versuch einer Kulturgeschichte der Lüge wird erst mal die schöne Seite dieses allzu menschlichen Täuschungsgeschäfts gefeiert.
30.05.2019, 14:3620.06.2019, 09:49
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Im Grunde sind die Menschen ja mehr an der Wahrheit interessiert. Zumindest tun sie gern so. Die Lüge ist nur die verbogene Version davon. Sie ist der böse Schatten, der die Wahrheit stets verfolgt, um sie mit Haut und Haar zu verschlingen. Und wenn jener düstere Lügenschatten sie dann wieder ausscheidet, erkennt sie keiner mehr und alle weinen um ihre verloren gegangene Reinheit.

Nur gab es jemals sowas wie eine Wahrheit? Etwas Ursprüngliches, etwas, das nicht schon immer durch den Blick oder die Hände der Menschen verzerrt worden ist? Und warum sind die Philosophen schon seit jeher auf der Suche nach diesem Unverfälschten?

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Nietzsche (1844–1900) findet das alles höchst verdächtig. Er lacht über «jenes augenfällig philiströse Pathos der Wahrheit» und verlangt, man solle sich erstmal den Menschen hinter dieser edlen Suche ansehen: Denn in diesem, so schreibt er,

«[...] ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze Leben, das Maskiertsein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, dass fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.»
Nietzsche, «Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne» (1873)

Für Nietzsche ist der Mensch sowieso alles andere als die Krone der Schöpfung. Mit beissender Ironie schreibt er die Wichtigtuerei seiner Spezies nieder, der nur aus Mangel an Stärke der Intellekt beschert worden sei, um sich mit ebendiesem genügend kunstvoll verstellen zu können, sodass sie überlebt. Sie habe nun mal kein beeindruckendes Raubtiergebiss.

Die Verstellung, das Lügen ist also das Primäre. Die Menschen begegnen sich niemals unverhüllt und sie sprechen auch ganz sicher nicht miteinander für die Erfüllung irgendeines Wahrheitstriebs. Bei Nietzsche sind die Menschen immer erst auf die Erhaltung ihres Lebens bedacht. Deshalb formen sie Gesellschaften und deshalb geben sie sich Gesetze.

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Und diese wiederum formulieren sie in ihrer Sprache, einem Medium, das schon von vornherein für die Wahrheitsvermittlung – angenommen, es gebe so eine – rein gar nichts tauge. Weil die Sprache niemals die Dinge an sich erfassen kann. Weil sie eine Abbildung eines Nervenreizes in Lauten sei. Eine Metapher, die nur die Beziehungen der Menschen zu den Dingen beschreibe.

Und so nennt der Mensch Wahrheit, was er so zu nennen beschlossen hat. Und in der Zwischenzeit hat er praktischerweise vergessen, dass jene Wahrheiten auch nichts weiter als Illusionen sind. Nietzsche meint, es sei ein bisschen so, wie wenn jemand «ein Ding hinter einem Busche versteckt, es ebendort wieder sucht und auch findet». Nur sei dann an diesem Suchen und Finden nicht allzu viel zu rühmen.

Denn im Grunde ist diese ganze Sache – postmodern ausgedrückt – ein nicht enden wollender Circle jerk. Oder um es mit Nietzsche zu sagen:

«Alle Gesetzesmässigkeit, die uns im Sternenlauf und im chemischen Prozess so imponiert, fällt im Grunde mit jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heranbringen, so dass wir damit uns selbst imponieren.»
Nietzsche, «Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne» (1873)

An dieser Stelle schimpfen die Kritiker dann:

Und was soll das nun bringen?!? Wir wissen ja, wohin diese Gedanken geführt haben! Zu all diesen poststrukturalistischen Plauderis, die jegliche Wahrheits- und Realitätsvorstellungen mit ihrem Meta-Beil zerhackt haben. Alles ist nur noch Interpretation, da ist keine Objektivität mehr, alles nur Diskurs, selbst das Ich löst sich auf in tausend Facetten! Moll, grandios, diese gedankliche Orientierung am Nichts. Nur was soll ich pragmatischerweise mit diesem Nihilismus anfangen? Mit dieser vollständigen Orientierungslosigkeit?

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Erstmal könnte man eine Freude am Interpretieren daraus ziehen. Nietzsche war kein Nihilist, ganz im Gegenteil, er versuchte stets, dieses drohende Nichts zu überwinden. Er verharrte nicht in einem weinerlich destruktiven Pessimismus. Wenn nichts wahr ist, dann ist eben auch alles möglich. Wenn von jeder Wahrheit das Gegenteil ebenso wahr ist, eröffnet uns das einen ungeahnten Spielraum. Nietzsche bot uns Interpretationswelten an, aber er empfand diese Vielfalt an Erscheinungen nicht als etwas Bedrohliches.

Und was anderes ist der Mensch als ein wandelnder Widerspruch? Er sagt das, tut aber dies. Heute ist er Vegetarier, morgen macht er eine Ausnahme. Er demonstriert gegen den Klimawandel und fliegt dann nach Bali in die Ferien. Er lebt im Paradox. In einer für sich zurechtgeformten und -gefärbten Welt.

Wie wäre es also, wir würden die Lüge nicht böse nennen, sondern erstmal einfach nur allgemein?

Die alten Griechen verstanden noch, eben so zu leben. Für sie war die Lüge nichts Sündiges, das kam erst mit dem Christentum. Sie hatten noch nicht einmal ein eigenes Wort für die Lüge, so wie sie heute verstanden wird: als fiese, unaufrichtige Täuschungsabsicht im moralischen Sinne. Man bezeichnete mit dem griechischen Begriff Ψενδοξ genauso den (unbewussten) Irrtum und vor allem das Geschäft des Dichters, die poetische Ausschmückung, die Fiktion.

Wenn die Sprache schon kein sicheres Transportmittel für die Wahrheit ist, wie Nietzsche sagt, dann erschafft man daraus vielleicht besser gleich Kunst. Und so lügt sich als einer der Ersten Odysseus in Homers «Odyssee» (7. Jh. v. Chr.) durch die Literaturgeschichte. Seine Listen sichern ihm immer wieder das Überleben.

Dem menschenfressenden Zyklopen Polyphem gibt er an, «Niemand» (was auf Griechisch zugleich «Odysseuschen» bedeutet) zu heissen, und als dieser von Odysseus geblendet wird und in seinem Schmerz die anderen einäugigen Riesen herbeibrüllt, führt der Riese den Herbeieilenden aus: «Niemand hat mich geblendet! Niemand hat versucht, mich zu ermorden!»

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Polyphem ist der Trottel, Odysseus der verschlagene, ihm weit überlegene Lügner. Die wahre Erkenntnis ist dem Griechen das Wissen und das Spiel um die Lüge.

Odysseus wird dann bei seiner Heimkehr nach Ithaka auch nicht an seinen Worten erkannt, sondern an einer alten Narbe und an seiner Fähigkeit, seinen Bogen zu spannen und damit durch die Schaftlöcher von zwölf in einer Reihe stehenden Äxten zu schiessen.

Die Römer allerdings warfen den Griechen, aus deren Kultur sie sich so freizügig bedienten, ihren generösen Umgang mit der Lüge gern vor, während die Griechen diesen ihrerseits auf die Kreter schoben: Dieses Volk lüge, schreibt Epimenides (irgendwann zwischen 5. und 7. Jh. v. Chr.), sogar noch auf seinen Grabsteinen! Auf dieser Insel würden Glückwünsche für ein langes Leben an die Adresse von Verstorbenen gehen und selbst die Massangaben in den Tempelanlagen seien gefälscht.

Epimenides war übrigens selbst Kreter. Und als er sagte: «Alle Kreter lügen» – hat er das berühmteste Lügen-Paradoxon geschaffen, einen Satz, der seine eigene Falschheit behauptet. Ein prächtiges Monument für den spielerischen Umgang der Griechen mit dem Unwahren.

Soll man ihm nun glauben, dem lügnerischen Kreter? Sagt er die Wahrheit, wenn er sich als Lügner bekennt? Oder ist auch das nur eine Lüge?

Aristoteles unterschied in seiner «Poetik» (335 v. Chr.) den Verfasser von «historia», der «das wirklich Geschehene mitteilt», vom Dichter, der erzählt, «was geschehen könnte». Dieses «wirklich Geschehene» ist in der antiken Geschichtsschreibung allerdings eine höchst dehnbare Angelegenheit. Paris' Raub der schönen Helena aus den Händen des spartanischen Königs Menelaos und der darüber ausgefochtene Trojanische Krieg war für die alten Griechen genauso real wie die im 5. vorchristlichen Jahrhundert ausgetragenen Perserkriege.

Ihr Selbstbild formten sie mit Knete aus mystischen Zeiten, sie dramatisierten ihre Schlachten mit erfundenen Reden, geschwungen von grossen Heerführern. Über allem hing ein schamlos schönes Pathos und durch die Ritzen jenes «wirklich Geschehenen» schillerte schelmisch die Poesie.

Vielleicht ist das die Wahrheit. Vielleicht liegt sie immer schon im Erdichteten, weil sie selbst Erfindung ist. Oder mit den Worten des Althistorikers Paul Veyne ausgedrückt:

«Die Menschen finden die Wahrheit nicht; sie erschaffen sie, wie sie ihre Geschichte erschaffen.»
Paul Veyne

Doch mit dieser Denkfigur einer erfundenen Wahrheit können die Christen denkbar wenig anfangen. Wenn die Menschen viele Götter kennen, kennen sie auch viele Wahrheiten. Wenn sie aber nur an den Einen glauben, dann gibt es eben auch nur eine Wahrheit. Und in dieser unbedingten Welt muss Odysseus, der lügenreich listige Held der Antike, zum Bösewicht werden – es dauert nicht lange, bis er in Dantes achtem Höllenkreis brennt, zusammen mit den anderen Falschrednern.

Es ist die Zeit, in der die Lüge einen bitteren, unmoralischen Beigeschmack bekommt. Sie wird verwerflich. Und wer sie dem aufrecht Suchenden auf dem Pfade zur Wahrheit in den Weg legt, ist des Teufels.

In der Tat kam die tiefe Verachtung der Lüge Hand in Hand mit der Verachtung für diesen gefallenen Engel. Das frühe Christentum, in Gestalt des lateinischen Kirchenlehrers Augustinus (354–430), sah im Lügner geradezu einen Gegenspieler Gottes. Denn dieser wolle die Menschen über die göttliche Wahrheit täuschen, er stehe der wahrhaften Erkenntnis, ja dem Heil, im Wege.

Er schreibt:

«Es lügt derjenige, der etwas anderes, als was er im Herzen trägt, durch Worte oder sonstige Zeichen, zum Ausdruck bringt.»
Augustinus, «De mendacio» (394)

Augustinus geht es also nicht um wahr oder falsch an sich, sondern nur um das wahr oder falsch Gedachte, sprich um die Absicht des Redners. Will dieser bewusst die Wahrheit verdrehen, so ist er ein Lügner. Damit liefert der Kirchenlehrer eine erste, noch heute gültige Definition der Lüge.

Er macht aber auch den freien Willen als den Entstehungsort dieses gewollt Bösen aus und so wird dieser in der Folge zur Schmiede nicht nur der Täuschungsversuche des Menschen, sondern der Sünde überhaupt. Ihm wird fortan der Krieg erklärt und er wird in allen noch kommenden Jahrhunderten Millionen von schlechten Gewissen heranzüchten.

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Augustinus kommt dann auch zum unerbittlichen Schluss: Es darf NIEMALS gelogen werden. Nicht einmal, um ein Leben zu retten. Denn der frühe Christ durfte selbstredend das zeitliche, leibliche Leben nicht mehr lieben als die ewige Seligkeit. In jener Zeit galt es, den noch jungen Glauben selbst bei Todesstrafe nicht zu leugnen, märtyrerhaft musste für ihn gestorben werden.

Das achte biblische Gebot lautet:

«Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.»
2. Mose 20, Vers 16

Auch Gott verlangt nicht, dass man die Wahrheit kennt, er verbietet bloss die Täuschung zum Schaden eines anderen. Hier nun wird ersichtlich, dass es um einen gesellschaftlichen Akt geht. Wer einen Meineid leistet, der ruft Gott als Zeuge der Unwahrheit auf, zieht den Herrn also in seine schmutzigen irdischen Machenschaften.

An diesem gesellschaftlichen Vertrag nun setzt dann Jahrhunderte später auch der grosse Aufklärer Kant (1724–1804) an. Natürlich ist Gott dann aus dem Spiel und wird vom Vernunftvermögen des Menschen ersetzt.

Nichtsdestotrotz ist Kant wie Augustinus der Ansicht, das unter gar keinen Umständen gelogen werden darf. Denn die Lüge zerrütte die Fundamente der Gesellschaft. Würde sie legitim, so würden Aussagen keinen Glauben mehr finden und alle Rechte, die auf Verträgen gründen, würden hinfällig. Der Lügner hebe die Gemeinschaft auf, er sei «feige» und «nichtswürdig». Kant zeigt sich gegenüber der Lüge dermassen unnachgiebig, dass er schreibt, man dürfe keinen einzigen Fall von Notlüge zugeben, weil er fürchtet, es würde sonst der gesamte ethische Bau in sich zusammenfallen und Diebstahl, Betrug und Mord aus Not wären Tür und Tor geöffnet.

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Seine Radikalität erklärt sich daraus, dass er die Wahrhaftigkeit der Menschen – also das subjektive Für-wahr-Halten der eigenen Aussage – als Voraussetzung für die Kommunikation sieht.

Dieselbe Befürchtung lesen wir auch schon bei Augustinus, wenn er schreibt: «Die Sprache zur Täuschung zu benützen, ist Sünde.» Denn sie sei nicht zum Zwecke der Täuschung geschaffen worden, sondern damit man durch sie seine Gedanken dem anderen zur Kenntnis bringe.

Die Menschen müssen sich also grundsätzlich vertrauen können. Würden alle lügen, herrschte pures Chaos. Kants kategorischem Imperativ zufolge darf die Lüge darum keinerlei Recht geniessen, niemals zum allgemeinen Gesetz werden.

Schopenhauer (1788–1860), dem pessimistischen Haudegen, stank dies alles allzu sehr nach unbrauchbarer Moralpredigt. Eine Verneinung der Lüge führe am Ende nur dazu, dass sich die Menschen selbst verneinen. Wir lügen nun mal, Zeit also, nicht dauernd gegen diese schlechte Angewohnheit zu schiessen oder sie gar zu verbieten, sondern darüber nachzudenken, wie man mit ihr umgehen will.

Schopenhauer war so frei, ein Recht zur Lüge zu formulieren. Dafür definiert er sie wie folgt:

«Die Quelle der Lüge ist allemal die Absicht, die Herrschaft seines Willens auszudehnen über fremde Individuen, den Willen dieser zu verneinen, um seinen eigenen desto besser zu bejahen; folglich geht die Lüge als solche aus von Ungerechtigkeit, Übelwollen, Bosheit.»
Arthur Schopenhauer, «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1819)

Einen anderen gegen seinen Willen zu zwingen, das ist Schopenhauers Essenz der Lüge. Für ihn ergeben sich daraus aber durchaus berechtigte Lügen, einmal diejenigen zur Abwehr direkten Zwanges, sprich Gewalt. Lügen aus reiner Notwehr. Wenn also ein Vergewaltiger vor deiner Tür steht und von dir verlangt, ihm zu verraten, wo dein Kind sich versteckt hält, dann darfst du natürlich lügen! Man könne nicht – wie Kant dies mit seiner ausnahmslosen Lügen-Ablehnung im Grunde verlangt – die List der Lüge zurückweisen, die körperliche Gewalt aber akzeptieren.

Zum anderen darf man Schopenhauer zufolge auch flunkern, um sich damit die unbefugte Neugier mancher Leute vom Leibe zu halten. Denn auch ihr Motiv sei meistens kein wohlwollendes:

«Denn, wie ich das Recht habe, meine Gartenmauer mit scharfen Spitzen zu verwahren, nachts auf meinem Hofe böse Hunde loszulassen, ja, nach Umständen, selbst Fussangeln und Selbstschüsse zu stellen, deren schlimme Folgen der Eindringer sich selber zuzuschreiben hat; so habe ich auch das Recht, dasjenige auf alle Weise geheim zu halten, dessen Kenntnis mich dem Angriff Anderer blossstellen würde, und habe auch Ursache dazu, weil ich auch hier den bösen Willen Anderer als sehr leicht möglich annehmen und die Vorkehrungen dagegen zum Voraus treffen muss.»
Arthur Schopenhauer, «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1819)

Wenn also einer kommt, dem die Antwort «Dies will ich lieber nicht erzählen» nicht genügt, dem serviere man getrost eine saftige Lüge.

Und was tun wir nun mit all dem? Der Versuch eines (sehr subjektiven) Fazits

«Im Anfang war das Wort», sagte Gott. «Im Anfang war die Lüge», sagt darauf Nietzsche. Weil das Wort im Grunde immer bereits Lüge ist, weil es die Dinge dahinter immer schon auf eine bestimmte Art gesehen, gedacht und sich angeeignet hat. Nun funktioniert Sprache aber so, sie beruht auf unseren Abmachungen und Konventionen, damit sie ihren kommunikativen Zweck erfüllen kann. In diesem verabredeten System agieren wir nun mal, wir können daraus gar nicht ausbrechen. Es bleibt uns also nicht viel übrig, als mit diesem von uns wahr Gedachten zu kutschieren. Mit der von uns selbst erfundenen Wahrheit. Nur was heisst das nun für die Lüge?

Bei den alten Griechen war sie gleichbedeutend mit Fiktion. Sie war eine ästhetische, keine moralische Kategorie. Sie war die Wolle, aus dem der Dichter seine Geschichten wob. Ein Lügen um der Lüge willen quasi. Hier wird der Kunst der Vorrang gegeben. Wo die Bäume einmal Nymphen waren und Zeus in Gestalt eines Stieres Jungfrauen fortschleppt, dort geht die Schönheit vor, da ist der Mythos die Wahrheit und man lässt sich freudig von dessen vielfältigen Täuschungen verführen.

Aber inzwischen sind wir längst «erwachsen» geworden. Haben die alten Götter ersetzt durch den einen (oder auch anderen) Neuen und diesen wiederum durch die Wissenschaft. Die Objektivität, die Wirklichkeit regiert und der Kunst bleibt einzig ein stickiges Rumpelkämmerchen. Hier drin darf man sich in seiner Freizeit noch bedenkenlos der Täuschung hingeben.

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Wehe aber dem, der ausserhalb jenes Kämmerchens lügt und trügt! Hier draussen nämlich ist die Lüge längst verwerflich geworden. Denn hier hat das Christentum gewütet, diese für Nietzsche «grosse unheilige Lüge». Eine Lüge mit System nämlich, die mit ihrem allwissenden Gott und einem jenseitigen Leben eine mächtige Strafmaschine erschaffen hat. Der Mensch wird darin zum Sünder, den es der einzigen, geoffenbarten Wahrheit zuzuführen gilt. Wer diese leugnet, setzt das Heil der gesamten Menschheit aufs Spiel.

Kant braucht dann auch keine Verdammnis-Androhung mehr, um den Lügner als Zerstörer der Gesellschaft zu brandmarken. Man hat die christlich-moralischen Grundfesten schon so sehr verinnerlicht, dass man den lügnerischen Halunken nicht mehr ungestraft daran rütteln lässt.

Wenn wir nun aber diesen Lügner abermals in einem künstlerischen Sinne radikal umdeuten, wird er zum wahren Fundament einer zivilisierten Gesellschaft. Er ist ein Erzähler, der erzählt, wie die Welt ist, aber weil er lügt, erfahren wir die Wahrheit über die Welt. Er ahmt nicht einfach das Leben nach, er formt es nach seinem Geschmack, er erschafft.

Natürlich ist auch eine solche Lügen-Definition keine wirklich pragmatische, weil sie die oftmals böswillig täuschende oder gar schädigende Absicht des Lügners, den Zwangscharakter – wie ihn Schopenhauer beschrieben hat – und all seine hässlichen Konsequenzen vollends ausser Acht lässt. Eine solche Betrachtungsweise der Lüge ist allzu unschuldig, weil sie sich in ihrer «L’art pour l’art»-Manier selbst genügt. Die Mutter, die ihrem Kind vom Christchindli erzählt, will es nicht böswillig täuschen, sondern bezaubern. Was aber ist mit dem Betrüger, der einer rührseligen Oma von seinen erdichteten Schicksalsschlägen erzählt? Er verfolgt einen Zweck ausserhalb seiner Geschichte. Er will nicht bezaubern. Er will das Geld der Oma.

Was aber ist mit der Frau, sagen wir, es ist die Mutter der Freundin dieses Kindes, die dem vor Vorfreude tänzelnden Kind einen Tag vor Weihnachten offenbart, dass es das Christchindli überhaupt nicht gibt? Ist sie nicht genauso eine wahre Zerstörerin?

Raubt einem Kind seine Illusionen! Als müsste es sich nachher nicht ein Leben lang mit der bereits ausgedeuteten Welt der Erwachsenen herumschlagen!

Lasst uns uns doch wieder vermehrt der schönen Seite der Lüge hingeben. Seien wir ein bisschen mehr Lebenskünstler und ein bisschen weniger Wahrheitsverbissene. Frönen wir der Mythomanie, ohne dabei gleich als psychisch gestört zu gelten. Das Spiel mit den Masken ist unser Spiel. Lasst es uns beginnen.

PS: Das Kind war ich.

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30 Kommentare
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fräulein_dienstag
30.05.2019 15:05registriert Januar 2016
Wahnsinnig gut geschrieben, so viele krasse Fakten in einem so schön formulierten Text verpackt!
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Gibus
30.05.2019 16:49registriert Februar 2019
Lügen können Menschen die den Lügen zum Opfer fallen zerstören.

Lügen können Menschen die durch Lügen zerstört werden sollen retten

Lügen können aber auch Menschen die sich selbst belügen genauso zerstören

Wahrheit ist nicht immer die beste Lösung, leider
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