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Karthik Muralidharan im Interview: Zustand der Menschheit verbessert sich

Schüler Schülerinnen Indien
Das Bildungsniveau der Schülerinnen und Schüler innerhalb einer Klasse ist sehr unterschiedlich. Das erschwert einen zielgerichteten Unterricht.Bild: Sanchit Khanna / Hindustan Times
Interview

«Die Zukunft gehört den Optimisten!»

Klimakrise, Kriege und unsichere Perspektiven dominieren das Weltgeschehen. Doch der indischstämmige Wirtschaftsprofessor Karthik Muralidharan sagt, der Zustand der Welt verbessere sich. Dank seinen Forschungen weiss er auch, was es braucht, um die Entwicklung in armen Ländern zu beschleunigen - und wie die Schweiz dabei helfen kann.
29.05.2025, 16:3329.05.2025, 16:33
Anna Wanner / ch media
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Entwicklungsökonom Karthik Muralidharan (49) gehört zu den wichtigsten aktuellen Denkern in der Frage, wie Entwicklungsländer der Armut entkommen können. Er berät dazu die indische Regierung und hat das Buch «Accelerating India's Development: A State-Led Roadmap for Effective Governance» veröffentlicht. Wir trafen ihn an der Universität Zürich zum Gespräch.

Herr Muralidharan, trotz all der Probleme in der Welt haben Sie eine sehr optimistische Sicht auf die Zukunft. Warum?
Karthik Muralidharan: Wenn man sich die wichtigsten globalen Entwicklungsindikatoren ansieht, sei es die Kindersterblichkeit oder der Anteil der Kinder, die zur Schule gehen – dann war die Welt noch nie in einem besseren Zustand!

Angesichts von Klimawandel, Kriegen und Wirtschaftskrisen – geht es den Menschen wirklich besser?
Es hat immer Herausforderungen gegeben. Vieles ist eine Frage der Wahrnehmung: Für die Medien ist es einfacher, Angst zu verkaufen als Hoffnung, oder? Es besteht kein Zweifel daran, dass wir noch vieles besser machen können. Es ist also ein vorsichtiger, aber nicht unbegründeter Optimismus. Die Daten zeigen: Der Zustand der Menschheit verbessert sich.

Wirtschaftsprofessor Karthik Muralidharan
«Ich bin weder naiv noch unrealistisch optimistisch», sagt Wirtschaftsprofessor Karthik Muralidharan.Bild: Claudio Thoma/CHMedia

Woran machen Sie diesen Fortschritt fest?
Man sieht den Fortschritt an den deutlichen Verbesserungen in der menschlichen Entwicklung im Laufe der Zeit. Wenn man sich die Entwicklung von Kindern ansieht, ist das erste Ziel zu überleben – und erst im zweiten Schritt zu gedeihen. Wir haben enorme Fortschritte bei der Senkung der Kindersterblichkeit gemacht. Viel mehr Kinder überleben.

Nur: Die Schwächsten, die früher nicht überlebt hätten, brauchen heute besondere Unterstützung. Vergleicht man arme und reiche Länder, so sieht man, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Was mich aber optimistisch stimmt, ist das, was wir in den Daten sehen: Die Lebenserwartung ist gestiegen, zum Teil, weil die armen Länder heute in der Lage sind, viel bessere Ergebnisse zu erzielen, als reiche Länder es früher bei gleichem Einkommensniveau konnten.

Was brauchen wir, um diesen Fortschritt fortzusetzen?
Drei Dinge waren dabei entscheidend: erstens die Schaffung von neuem Wissen durch Forschung. Zweitens, die Weitergabe dieses Wissens. Und drittens: Das Wissen auch wirklich anzuwenden.

Können Sie das erläutern?
Vor 100 Jahren, im Jahr 1924, konnte der US-Präsident Calvin Coolidge seinen Sohn nicht retten – dieser starb an einer einfachen bakteriellen Infektion, die er sich beim Tennisspielen durch eine Blase zugezogen hatte. Damals gab es noch keine Keimtheorie der Krankheit und auch keine Antibiotika. Heute hat selbst ein armer Lohnarbeiter in Indien Zugang zu diesen Medikamenten.

Ein anderes Beispiel: Vergleicht man die Spanische Grippe mit Corona, zeigt sich: Corona war schlimm, aber wir hatten in einem Jahr einen Impfstoff. Das wäre vor 100 Jahren unvorstellbar gewesen. Mein Optimismus basiert also darauf, dass Wissenschaft und Technologie uns immer bessere Möglichkeiten bieten, das Leben der Menschen zu verbessern.

Buch von Karthik Muralidharan
«Die Entwicklung Indiens beschleunigen: Ein staatlich geführter Fahrplan für effektives Regieren» heisst das Buch von Muralidharan übersetzt.Bild: Claudio Thoma/CHMedia

Deshalb haben Sie dieses Buch geschrieben?
Genau. Wir haben in den letzten 20 Jahren so viel darüber gelernt, wie wir die Entwicklung beschleunigen können. Dieses Wissen möchte ich einem breiteren Publikum zugänglich machen.

Ihr Schwerpunkt liegt auf Indien. Warum sind die Lernergebnisse trotz Fortschritten dort so schlecht?
Betrachtet man das Pro-Kopf-BIP, befindet sich Indien auf dem Entwicklungsniveau, das man in dieser wirtschaftlichen Lage erwarten würde. Aber es dauert oft ein oder zwei Generationen, bis sich Lernfortschritte zeigen. Denn der wichtigste Faktor dafür ist das Elternhaus. Zwar bemüht sich die Regierung, Schulen zu bauen und Bildung für alle Kinder zugänglich zu machen, doch viele von ihnen sind die erste Generation in ihrer Familie, die überhaupt zur Schule geht. Ihre Eltern können nicht lesen und schreiben, sodass es kaum Unterstützung von zu Hause gibt.

Wie lässt sich da die Entwicklung beschleunigen?
Wir wissen heute viel mehr darüber, wie Kinder besser und schneller lernen können. Ein zentrales Problem für Lehrkräfte in indischen Schulen sind die grossen Leistungsunterschiede zwischen den Schülern. Wenn ich beispielsweise eine achte Klasse unterrichte, befinden sich nur wenige Schüler tatsächlich auf dem Niveau der achten Klasse. Manche sind auf dem Stand der siebten, andere sogar nur auf dem der zweiten Klasse.

Selbst engagierte Lehrer sind mit dieser Heterogenität überfordert. Mithilfe personalisierter, adaptiver Lernsoftware lässt sich der Unterricht jedoch individuell auf das Niveau jedes einzelnen Kindes anpassen. Das steigert die Effizienz enorm. Das war vor 20 Jahren noch nicht möglich. Mein zentraler Punkt ist daher: Wir können heute viel mehr erreichen, wenn wir das vorhandene Wissen besser nutzen.

Braucht dann jedes Kind einen Computer?
Viel Innovation passiert in reichen Ländern wie der Schweiz oder den USA. In Indien hingegen sprechen wir von sogenannter «frugaler Innovation». Das bedeutet: 80 Prozent der Qualität zu nur 10 Prozent der Kosten, weil wir extrem kostenbewusst handeln müssen. Auch wenn man nicht jedem Kind einen eigenen Computer geben kann, kann man beispielsweise Computerräume mit 20 Geräten einrichten. So kann jede Klasse mehrere Stunden pro Woche individualisierten Unterricht haben. Wir sehen bereits, dass das einen grossen Unterschied macht. Und mit sinkenden Kosten pro Gerät wird der Zugang für immer mehr Kinder möglich.

Schülerinnen Delhi Indien
Nicht jedes Kind braucht einen eigenen Computer, um zu lernen: Schülerinnen des Nationalen Wissenschaftszentrums in Delhi.Bild: Sonu Mehta / Hindustan Times

Gilt das auch für andere Länder?
Ja. Meine Studien erscheinen bald auch in einer globalen Ausgabe meines Buches. Viele der Prinzipien lassen sich auch auf andere Länder übertragen.

Und Sie bleiben auch für andere Staaten optimistisch?Ja. Klar denken wir oft an Korruption und Kriege. Doch als Europa noch auf dem Einkommensniveau war wie Indien heute, gab es dort ähnliche Herausforderungen. Ein historischer Vergleich ist entscheidend, um heutige Entwicklungsländer sinnvoll mit heutigen Industrieländern zu vergleichen. Und dabei zeigt sich: Länder wie Indien schneiden besser ab, als man es bei ihrem Einkommensniveau erwarten würde.

Corona hat es gezeigt, und die jüngsten globalen Entwicklungen beweisen es erneut: Viele Regierungen ignorieren wissenschaftliche Erkenntnisse ...
Ich bin weder naiv noch unrealistisch optimistisch – denn natürlich werden viele Entscheidungen aus politischen Gründen getroffen. Dennoch hat die Wissenschaft eine wichtige Rolle: Forschung zu betreiben und fundierte Ideen in die öffentliche Debatte einzubringen. Gleichzeitig sollten Regierungen ihre internen Prozesse verbessern: wissenschaftliche Erkenntnisse sammeln, Wirtschaftlichkeit bewerten und dann Erkenntnisse in die Praxis umsetzen.

Das ist eine gigantische Aufgabe!
Ja, das ist es. Und es wäre leicht, aufzugeben. Aber wir haben keine Wahl: Ein leistungsfähiger Staat ist so entscheidend für unsere gemeinsame Zukunft, dass wir gar keine andere Wahl haben, als optimistisch zu bleiben und es zu versuchen. Mein Buch ist ein Ausdruck der Überzeugung, dass wir durch eine Kombination aus konzeptioneller Klarheit und praktischem Handeln genau das erreichen können.

Dieser vorsichtige Optimismus ist von einem Zitat des berühmten Harvard-Professors David Landes in den abschliessenden Worten seines Werks «The Wealth and Poverty of Nations» inspiriert. Landes schreibt: «In dieser Welt setzen sich die Optimisten durch – nicht, weil sie immer recht haben, sondern weil sie positiv denken. Selbst wenn sie sich irren, bleiben sie positiv – und das ist der Weg zu Fortschritt, Korrektur, Verbesserung und Erfolg. Informierter, wacher Optimismus zahlt sich aus. Pessimismus bietet nur den schwachen Trost, recht gehabt zu haben.» Deshalb gehört die Zukunft den Optimisten.

Und welche Rolle spielt die Schweiz in dieser Zukunft?Ich habe Europa nicht im Detail untersucht, aber die Debatte über effektive Regierungsführung ist überall relevant – darüber besteht über politische Lager hinweg Einigkeit. Die politische Linke fordert, dass der Staat mehr tun soll, doch damit das gelingt, muss er effizient arbeiten.

Die Rechte hingegen ist frustriert über übermässige Bürokratie und fordert Einsparungen und einen Rückzug des Staates. Auch das kann jedoch kontraproduktiv sein – denn Bildung, Gesundheitsversorgung und grundlegende Dienstleistungen müssen gewährleistet sein. Entscheidend ist: Man muss klar definieren, was der Staat leisten soll – und diese Leistungen effizient umsetzen.

Wie kann die Schweiz zur globalen Entwicklung beitragen?
Ich kenne das Schweizer Entwicklungsbudget nicht im Detail, aber eines ist klar: Ein wirkungsvoller Hebel liegt darin, Forschung in Bereichen zu fördern, die für ärmere Länder relevant sind. Denn in Ländern mit niedrigem Einkommen fehlt oft das Budget für Forschung – dort steht zunächst das Überleben der Bevölkerung im Vordergrund. Reiche Länder dagegen haben gute Forschungsinfrastruktur.

Deshalb kann es sehr sinnvoll sein, Entwicklungsgelder gezielt in die Grundlagenforschung zu Impfstoffen und Heilmitteln für Krankheiten zu investieren, die vor allem arme Menschen betreffen. Der Markt finanziert heute vor allem Forschung zu Krankheiten der wohlhabenden Welt, weil dort Kaufkraft vorhanden ist. Doch ein Impfstoff für die Armen könnte deren Lebensqualität massiv verbessern.

Gibt es noch andere Möglichkeiten?
Die Schweiz ist eines der am besten regierten Länder der Welt. Statt nur Schulen oder Krankenhäuser zu bauen, sollte sie Programme für Finanzministerien ärmerer Länder anbieten – um zu zeigen, wie man öffentliche Ausgaben effizienter gestalten und die Qualität staatlicher Strukturen verbessern kann. Denn ein Schweizer Hilfsbudget ist im Vergleich zum nationalen Haushalt eines Landes eher klein. Der Einsatz des Schweizer Entwicklungshilfebudgets zur Verbesserung der Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben in ärmeren Ländern kann also ein wirkungsvoller Multiplikator für die Entwicklung sein.

Funktionieren klassische Hilfsprogramme also nicht?Doch, Hilfe ist wichtig, und Entwicklungshilfe zu kürzen, ist nicht die Lösung. In manchen Situationen braucht ein Land ganz einfach grundlegende Dinge – Lebensmittel, neue Schulen oder medizinische Grundversorgung. Aber wenn man zusätzlich die Regierungsstrukturen verbessert, ist der langfristige Nutzen viel grösser.

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Ist das die Zukunft des Wanderns?
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