Jeder Mensch ist einzigartig. Selbst Mehrlinge haben unterschiedliche Merkmale, physische und psychische. Wir sind von Natur aus Individuen und verfügen über die auf diesem Planeten ziemlich einzigartige Fähigkeit zum selbständigen Denken. Dennoch wurde die Menschheitsgeschichte über lange Zeit durch den Kollektivismus bestimmt.
Die Gründe dafür lassen sich bis in die Anfänge unserer Spezies zurückverfolgen. Für unsere Vorfahren war es eine Frage des Überlebens, Teil einer Gruppe zu sein und sich an gemeinsame Regeln bei der Beschaffung von Nahrung und Unterkunft zu halten. Ein «Rauswurf» aus der Sippe war in den meisten Fällen gleichbedeutend mit einem Todesurteil.
Eine gewisse Individualität war innerhalb der Gruppe möglich, etwa bei der Herstellung von Kunsthandwerk. Dennoch gab es für die Selbstentfaltung enge Grenzen. Erst mit dem geistesgeschichtlichen und technologischen Fortschritt konnte sich der Mensch vermehrt als Individuum ausleben. Doch viele Grenzen sind bis heute nicht überwunden.
Die Geschichte der Individualität wurde durch herausragende Köpfe beeinflusst. Hier eine Auswahl wichtiger Vordenker:
Unsere westliche Zivilisation wird auf das antike Griechenland zurückgeführt. In Athen entstand die Urform der Demokratie. Dort wirkte auch einer der grössten Gelehrten der Geschichte: der Philosoph Sokrates. Er lebte von 469 bis 399 v. Chr. und gilt als Wegbereiter des abendländischen Denkens, obwohl er nichts aufgeschrieben hat.
Sokrates gilt auch als Pionier des Individualismus. Das begann mit seiner äusseren Erscheinung. Er soll sich oft ungewaschen und im Schlafanzug auf dem Marktplatz von Athen herumgetrieben haben. Seine Zeitgenossen nervte er, indem er nicht wie andere Philosophen dozierte, sondern sie mit permanenten Fragen löcherte.
Mit dieser Mäeutik oder «Hebammenkunst» wollte Sokrates die Menschen dazu bewegen, eigene Ideen zu «gebären». Er animierte sie zu selbständigem Denken. Den Mächtigen in Athen war dies natürlich suspekt. Sie klagten Sokrates wegen Gottlosigkeit an und weil er die Jugend verderben würde. Am Ende wurde er zum Tod durch den Giftbecher verurteilt.
Gleich geht es weiter mit der Individualität, aber vorab eine kurze Werbeunterbrechung:
Und nun zurück zur Story ...
Eine eigene Religion wollte Jesus, der Wanderprediger aus Nazareth, nie begründen. Er war und blieb stets ein Jude, doch mit seinen revolutionären Ansichten provozierte er die geistlichen und weltlichen Machthaber. In gewisser Weise war Jesus der perfekte Individualist, denn kaum ein Mensch vor ihm entwickelte derart radikale Gedanken.
Er wandte sich gegen die Versuchung der Macht und forderte: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Damit nahm er das Individuum doppelt in die Pflicht, mit der Aufforderung zur Selbstliebe – nicht zu verwechseln mit Selbstverliebtheit – und zur Menschenliebe. Den Begriff «Nächsten» interpretierte er universell. Selbst den Feind solle man lieben, sagte er.
Es erstaunt nicht, dass Jesus wie Sokrates hingerichtet wurde. Und dass die Religion, die auf seinem Gedankengut errichtet wurde, dieses nicht nur bis zur Unkenntlichkeit abschliff, sondern ins Gegenteil verkehrte. Die Kirchen liebten die Macht und propagierten den Hass auf Andere. Der Individualist Jesus war seiner Zeit voraus. Er ist es eigentlich noch heute.
Die Macht der katholischen Kirche und ihr Missbrauch trieben einen deutschen Augustinermönch auf die Barrikaden. Martin Luther forderte die Kirche mit seinen 95 Thesen heraus und wurde zum Begründer der Reformation. Als er 1521 vor dem Reichstag in Worms seine Thesen widerrufen sollte, weigerte er sich, mit Berufung auf sein Gewissen.
Die Worte «Hier stehe ich, ich kann nicht anders» hat er wohl nie verwendet. Aber Luthers Aufbegehren gegen Kaiser Karl V. gilt als Schlüsselmoment des Individualismus. Der späte, etablierte Luther rückte allerdings davon ab. Er verurteilte den Aufstand der Bauern, die sich auf seinen Freiheitsbegriff berufen hatten, und forderte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit.
Der Protestantismus und die damit verbundene Arbeitsethik trugen dennoch zur Entfaltung des Individuums bei. Das trifft besonders auf den angelsächsischen Raum zu, wo der Individualismus stärker Fuss gefasst hat als anderswo. In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten wird das «Streben nach Glück» sogar als Menschenrecht definiert.
Die Individualität wurde durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert vorangetrieben. Ein führender Philosoph war François-Marie Arouet, genannt Voltaire. Das berühmte Zitat «Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen» hat er so nie gesagt, aber es bringt seine Denkweise auf den Punkt.
Eine herausragende Rolle nahm auch Immanuel Kant ein. Sein Wahlspruch «Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» verweist zurück auf Sokrates. Im Kategorischen Imperativ «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde kann» man Spuren von Jesu Nächstenliebe erkennen.
Daraus lässt sich aber auch auf die Kehrseite der Individualität schliessen. Sie kann in blanken Egoismus übergehen, ohne Rücksicht auf andere Menschen und auf die Natur. Als Reaktion auf den Individualismus und den davon abgeleiteten Liberalismus entstanden zudem Gegenbewegungen wie Nationalismus, Faschismus, Kommunismus oder Islamismus.
Sie haben im 20. und 21. Jahrhundert unendliches Leid angerichtet. Denn der Wunsch des Menschen, seine Individualität auszuleben, stösst oft auf Gegenwehr bei jenen, die die vermeintliche Geborgenheit des Kollektivs vorziehen. Das ist selbst in den liberalen Demokratien des Westens der Fall, in denen sich die Gesellschaft am stärksten individualisiert hat.
In anderen Kulturen tut man sich bis heute schwer mit der Individualität, sei es in der islamischen Welt, im Hinduismus mit seinem offiziell verbotenen, aber unausrottbaren Kastensystem, oder in Fernost, wo am Kollektiv orientierte Denkschulen wie der Konfuzianismus bis heute einen prägenden Einfluss auf die Gesellschaften haben.
In den letzten Jahren befanden sich liberale Ideen sogar tendenziell auf dem Rückzug. Dennoch spricht einiges dafür, dass der Individualismus sich durchsetzen wird. Dafür stehen die Tausenden jungen Russen, die nicht in den Krieg ziehen wollen, genauso wie die unerschrockenen Frauen, die sich im Iran gegen den Kopftuchzwang wehren.