Sag das doch deinen Freunden!
Im Kino gewesen. Geweint. Mich geschämt. Weil: Kritiker weinen nicht. Jedenfalls nicht über Kitsch. Kritiker kritisieren Kitsch. Egal. Lasst mir meine letzte sündige Freude dieses Jahres. «The Danish Girl» ist ein Film so süss, süffig und traurig, dass ich nicht anders konnte. Dazu so irrsinnig elegant. Ein Ding, das sich in Schönheit verströmt. Schwelgen im echt schweren Schicksal.
«The Danish Girl» ist aber auch interessant. Nicht nur, weil es – einigermassen locker – die wahre Geschichte des dänischen Künstlers Einar Wegener (1882–1931) nachempfindet, der zu Lili Elbe wurde und bei seiner fünften Geschlechts-Angleichungs-Operation starb (es handelte sich um die Transplantation einer Gebärmutter). «The Danish Girl» ist auch die Geschichte einer Frau, die aus einem Mann eine Frau schuf.
1903 lernen sich in Kopenhagen zwei Kunststudenten kennen und verlieben sich sofort stürmisch: Die 17-jährige Pfarrerstochter Gerda Gottlieb und der wenig ältere Einar Wegener. 1904 heiraten sie. Beide malen. Einar kleinformatige Landschaftsbilder mit den immer gleichen kahlen Birken. Gerda grossformatige Magazin-Ilustrationen aus der Kopenhagener Theater- und Modeszene. Gerda überredet Einar, ihr in Frauenkleidern Modell zu sitzen. Einar ist begeistert, zuerst von den Kleidern, das Material greift über auf die Materie, dann von den Posen, dem Schauspiel. Die Kunstfigur Lili entsteht.
Gerda und Lili gehen zusammen auf Bälle, Einar liebt weiterhin Gerda, Lili beginnt, Männer zu lieben. Als Lilis Verkleidung auffliegt, sind die beiden in Stockholm nicht mehr gesellschaftstauglich. 1912 flüchten sie nach Paris und leben dort nach aussen als lesbisches Paar. Gerdas Illustrationen werden immer frivoler und immer erfolgreicher, sie wird zum Partygirl und zur Königin erotischer Zeichnungen, die meisten zeigen Lesben. Ihre Kunst sorgt für Skandale und Demonstrationen. Sie hat Affären mit Frauen, Lili mit Männern.
Lili löscht Einar aus. Und Lili wird immer unglücklicher. Jahrelang zieht sie von Arzt zu Psychiater, sie setzt den 1. Mai 1930 als Tag ihres Selbstmords fest. Doch im Februar 1930 lernt Lili einen Arzt aus Dresden kennen, der ihr verspricht, Einar auch aus Lilis Körper zu entfernen. Als Lilis bevorstehende Operationen bekannt werden, annuliert der dänische König die Ehe von Gerda und Lili. Gerda und Lili sind ein Politikum.
Kurz nach der Scheidung heiratet Gerda einen italienischen Diplomaten und Piloten und zieht mit ihm nach Marokko. Sie schickt Lili regelmässig Blumen ins Spital, doch anders als im Film, wo Gerda gern am Krankenbett sitzt, werden sich die beiden Frauen nicht mehr lebend sehen. Am 13. September 1931 stirbt Lili. Gerda lebt noch neun Jahre lang, dann stirbt auch sie, als Alkoholikerin, geschieden, vereinsamt und völlig verarmt. Der Reiz ihrer Gebrauchskunst hat sich erledigt. Zum Schluss zeichnet sie Postkartensujets.
Im Film ist dies natürlich alles verdichtet und verkürzt, die ganze Geschichte der beiden wird zwischen 1926 und Lilis Tod angesiedelt, die politische Seite entfällt. Gerdas lesbische Kunst wird nie zum Skandal und ist höchstens in ihren Doppelporträts von sich und Lili ganz dezent präsent. Gerdas einziger Daseinszweck ist der, Lili zu ermöglichen und dafür selbst Opfer zu bringen.
Schliesslich – das wird in jedem Interview von Regisseur Tom Hooper und seinem Superstar Eddie Redmayne betont – soll es in «The Danish Girl» «zuallererst um die Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen gehen». Da muss die Komplexität der Gerda Wegener eben ein bisschen vereinfacht werden. Dabei ist Alicia Vikander als Gerda eine grandiose Besetzungsidee, so stark, so klar neben der feingliedrigen Verwirrtheit von Eddie Redmayne als Einar/Gerda.
Natürlich geht es aber auch um das grosse Stichwort des Jahres 2015, um «Gender-Fluidity». Um die Verflüssigung von Normen, die Auflösung von Grenzen, zuerst im Kopf, später vielleicht auch im Körper. Im Jahr der Caitlyn Jenner. Im Jahr, da Miley Cyrus sagte, sie wisse nicht, ob sie Frau oder Mann sei. Im Jahr, da aus der Philosophin Beatriz Preciado ein Paul wurde. Im Jahr eins nach dem ESC-Sieg von Conchita Wurst. In den Jahren von Serien wie «Transparent» und «Orange is the New Black». In den Jahren, da durch Pharmazie und Technologie alles möglich scheint.
Alles passt also. «The Danish Girl» ist ein nostalgisches, ein sentimentales Zeichen unserer Zeit. Und dafür ist Tom Hooper schliesslich der Fachmann. Für Nostalgie, Sentimentalität und also Kitsch. Die Welt liebt ihn dafür. Mit «The King's Speech» gewann er vier, mit «Les Misérables» drei Oscars. Es ist also durchaus möglich, dass Eddie Redmayne jetzt den zweiten Oscar in Folge gewinnt. Das hätten dann vor ihm bloss Spencer Tracy in den 30er- und Tom Hanks in den 90er-Jahren geschafft. Hanks als aidskranker Schwuler in «Philadelphia» und als geistig beeinträchtigter Forrest Gump. Bei Eddie wären es der körperlich beeinträchtige Stephen Hawking und die transidente Lili Elbe.
Wenn das nicht förmlich nach Oscar brüllt in der Filmindustrie, die nichts mehr liebt als gesunde, weisse heterosexuelle Schauspieler in «anderen» Rollen. Auch Schauspielerinnen übrigens. Auch Cate Blanchett und Rooney Mara als lesbisches Paar in «Carol» gelten schon jetzt als Favoritinnen. Aber tragen wir es Eddie nicht nach. Er ist ein feiner Schauspieler. Gelegentlich etwas manieristisch, aber auch dies verdammt einnehmend.
Im Kino gewesen. Geweint. Mich geschämt. Aber nur ein bisschen.
«The Danish Girl» läuft ab 31. Dezember in Zürich und Bern im Lunchkino, ab 7. Januar überall im Kino.