Es gibt sie noch, die Lotto-Stehtischchen vor den Kiosken landauf, landab. Zwar kann man seit 14 Jahren online seine Tipps abgeben, doch 85 Prozent der Spieler geben gemäss Swisslos ihre Tipps an den Verkaufsstellen ab. Ich tue es der Mehrheit gleich und gebe meine beiden ersten Lottotipps überhaupt ab. Und ich mache den Fehler, den viele begehen: Ziehe die Kreuze in einem geometrischen Muster über die Ziffern von 1 bis 42 auf das Tippfeld. Andere wählen etwa die Geburtstage ihrer Familienmitglieder und tappen in die gleiche Falle wie die Freunde geometrischer Formen: Sie erhöhen damit nur die Wahrscheinlichkeit, einen erzielten Betrag mit jenen zu teilen, die gleich ticken – und sie senken damit die Chance auf den ganz grossen Gewinn.
Seit 35 Jahren steht Frau Müller hinter dem Tresen eines Kiosks im Zentrum einer Regionalstadt im Mittelland. Sie kennt sie alle, die ihr Glück Woche für Woche herausfordern. «Quer durchs Beet: vom Sozialhilfebezüger zum Topbanker, von jung bis alt, Ausländer wie Schweizer», sagt die Kioskverkäuferin, als sie meinen Tippschein einscannt.
36 Millionen Schweizer Franken liegen im Jackpot, so viel wie noch nie. Der Einsatz ist klein, die Aussicht auf einen Gewinn verlockend: Fr. 2.50 kostet ein Tipp, der Minimaleinsatz liegt bei 5 Franken.
629 Lotto-Millionäre hat die schweizerische Lotteriegesellschaft Swisslos seit 1979 bereits gekürt. Willy Mesmer, der Pressesprecher von Swisslos, kennt sie alle. Namen gibt er trotzdem keine raus. Nur wenige gingen in die Öffentlichkeit, einige weihten nicht einmal ihre Kinder ein. Zu sehr fürchten sie, die Kontrolle über den plötzlichen Geldsegen zu verlieren. Nicht von ungefähr: Der erste Schweizer Lottokönig überhaupt, Werner Bruni, liess sich schlecht beraten und verlor alles.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1937 hat Swisslos acht Milliarden Schweizer Franken als Gewinne an Spielerinnen und Spieler ausbezahlt und sechs Milliarden in gemeinnützige Zwecke. Den bisherigen Rekordbetrag erzielte am 10. März 2010 ein einzelner Tipper: Mehr als 35 Millionen Schweizer Franken räumte er ab.
Rational ist keine Teilnahme beim Lotto erklärbar. Wie die deutsche Stiftung für Warentest berechnete, stirbt man eher beim Kegeln, als dass man beim Lotto einen Volltreffer landet. Für die deutschen Sozialpädagogen Ludwig Kramer und Christoph Lau ist klar: Menschen, die Lotto spielen, begeben sich in Risikosituationen. In ihrem Buch über «Die Relativitätstheorie des Glücks» skizzierten sie für den mit der Schweiz vergleichbaren deutschen Lottomarkt das irrationale Verhalten des Menschen wie folgt:
Der irrationale Mensch muss nicht all diese Fehlschlüsse ziehen, und trotzdem blendet er alle Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Jeder, der mitspielt, hat exakt dieselben Gewinnchancen, noch die grösseren aber, zu verlieren. Die beiden Sozialpädagogen Kramer und Lau schreiben in ihrem Buch: «Lotto ist die reale, demokratisierte Hoffnung.» Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt der Volksmund. Nur so lässt sich erklären, dass Lotto-Spieler Woche für Woche ihre Tipps abgeben. Passend, wenn die Autoren nicht nur von der demokratisierten Hoffnung schreiben, sondern auch vom «letzten Stück Sozialismus im Kapitalismus». Denn die Chancen stehen für alle gleich. Gleich schlecht.
Entstanden sind die Lotterien übrigens dort, wo die kapitalistische Marktwirtschaft ihren Ursprung hatte, also vor allem in Nordwesteuropa (Niederlande) und Norditalien. Später setzte ihnen die mit der Reformation aufkommende protestantische Arbeitsethik ein zwischenzeitliches Ende. Dem Lotterleben und den Lotterien war der Kampf angesagt worden.
Kritisch beäugt denn auch das protestantisch geprägte Auge des Reporters die Quittung, welche die Kiosk-Frau Müller ausgehändigt hat: Wird mich heute Abend, wider aller Rationalität, ein kleiner Funken Hoffnung gebannt auf die gezogenen Lottozahlen blicken lassen? Werde ich enttäuscht sein, wenn es nichts gibt?