Angst ist ein Virus, der sich leicht verbreiten lässt. Man benötigt dazu heute nicht mal böse Absichten, sondern nur einen Mail-Account, von dem aus man eine freundliche Nachricht an Kollegen verschickt. Setzt man nun möglichst viele Empfänger, die irgendwie mit dem Belang zu tun haben könnten, in CC, kann die Angst sich wunderbar verbreiten. Was auf den ersten Blick Entscheidungstransparenz und Mitgestaltungsmöglichkeit verspricht, ist doch oft nur der effizienteste Weg, einen Schwelbrand der Verunsicherung zu entfachen.
Dass CC-Vieh, das ungefragt mit halbverlässlichen Informationen gefüttert wird, weiss ja verständlicherweise oft nicht so recht, was es mit diesen halbverlässlichen Informationen anfangen soll. Erwartet man, dass ich meine Meinung sage? Will man mich zum Handeln auffordern? Oder, schlimmer, will man mir gar klarmachen, dass jetzt ein anderer handelt, wo ich eigentlich hätte handeln sollen? Der Empfänger der freundlichen Mails wird mit dem anderen CC-Vieh in die Passivität und letztendlich in die Ohnmacht getrieben.
So jedenfalls würde der Soziologe Heinz Bude wohl argumentieren, der in seinem Buch «Gesellschaft der Angst» nachzeichnet, wie die Angst zur zentralen sozialen Kraft geworden ist. Ausführlich beschreibt er die Kommunikationsprozesse einer 24/7-Gesellschaft, bei der im permanenten, hochbeschleunigten Nachrichtenaustausch verbindliche Absprachen verloren gehen und sich das handelnde Ich in einer unüberschaubaren Masse von echten oder auch nur angenommenen Handlungsaufforderungen verliert.
Oder, wie es Bude bildhaft beschreibt: «Der seelische Kreiselkompass innerer Gleichgewichtsbildung wird durchs soziale Radargerät der Registrierung der Signale anderer ersetzt. Das Ich wird zum Ich der anderen und steht dann allerdings vor dem Problem, aus den Tausenden von Spiegelungen ein Bild für sich selbst zu gewinnen.»
Und so bewegt sich der Mensch heute durch sein Leben und Arbeitsleben wie durch ein Spiegelkabinett; er läuft ständig gegen Glasscheiben und holt sich beim nächsten Spiegel, wo ihn die Fratze seines ängstlichen Selbst anstarrt, eine Beule. Wer verharrt da nicht in Furcht? Wer verfügt da über die Energie, einfach weiterzugehen? Und wer traut sich da noch, siegessicher «Hierlang!» zu rufen? Die Verletzung ist unvermeidlich. Und sie ist laut Bude umfassend: «Man glaubt, in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen.»
Der Mensch sieht sich heute also immer kurz vor seiner Abwicklung. Unabhängig übrigens von Job und Gehalt. Bude spricht von «prekärer Privilegiertheit». Jeder steht immer kurz davor, alles zu verlieren. Oder er glaubt es zumindest. Das Aufstiegsversprechen, so der Autor, sei der Exlusionsandrohung gewichen. «Man wird nicht durch eine positive, sondern durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten.»
Zum Glück gibt es ja noch das Private. Ach ja, gibt es das noch? Begreift man Angst als Virus, dann macht dieser Virus natürlich nicht vor dem einen oder anderen gesellschaftlichen Segment halt. Arbeit und Liebe, Bildung und Familie - die «sozialmoralische Ansteckungsgefahr», wie Bude es nennt, erstreckt sich durch alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens.
Mag sich sein zum Teil emotional aufputschender und erfrischend rabiat geschriebener gesamtgesellschaftlicher Befund auch wie eine Krankenakte aus der Praxis des Doktor Mabuse lesen - die Detailanalysen sind präzise. Und die Verknüpfungen von einem sozialen Bereich in den anderen so feinsinnig wie frappierend.
Vor drei Jahren hat Bude bereits die negative Autosuggestionskraft der Mittelschicht in seinem Buch «Bildungspanik» beschrieben, jetzt koppelt er die permanente Angst vor dem Statusverlust mit der Sehnsucht nach einer unauflöslichen Beziehung: Da der Mensch in der hochbeschleunigten Auswechselwirtschaft als Erwerbstätiger wie als romantischer Partner ständig davor steht, seine Position zu verlieren, bleibt nur die Bindung zum eigenen Kind unverbrüchlich. So jedenfalls die Hoffnung.
Das Problem ist allerdings: Der Nachwuchs wird in einem Umfeld, wo sich alle anderen Werte und Sicherheiten ständig aufzulösen scheinen, zu einer Art Glaubensbekenntnis erhoben. Man wolle, so Bude, eine «Bindung ans Kind, die von keiner der beiden Seiten gekündigt werden kann». Der Sohn oder die Tochter als Retter einer zerfallenden Welt? Wie sollen Menschen, die gleich nach der Geburt solch schweres messianisches Gepäck aufgeladen bekommen, zu unbeschwerten Menschen heranreifen?
Sehr eindrücklich war diese Problematik unlängst in einem Münchner «Polizeiruf 110» zu sehen, in dem die Eltern einer Kita den Kleinen eine quasi-religiöse Begeisterung entgegenbrachten, während sie selbst auf erbärmlichste Weise Pfründe und Bünde zu sichern versuchten. Der Optimierungsdrang der Alten, er kann die Jungen nur erdrücken. In der Alles-ist-möglich-nichts-ist-sicher-Gesellschaft wird unablässig eine Option gegen die andere andere abgewogen - und sich dann doch nicht verbindlich entschieden.
Bude spricht von einem «Leben im Wartezimmer» und attestiert den Zaudernden eine «Lebenshaltung, die auf nichts verzichten will und deshalb alles unter einen Hut zu bringen versucht». Wunderbarerweise tut das der Autor mit dem Verweis auf den grossen, leider etwas vergessenen französischen Regisseur Eric Rohmer («Vollmondnächte»), dessen Filme stets von einem Meer der Möglichkeiten erzählten, in dem die Figuren trieben, ohne sich erotisch oder romantisch festlegen zu können.
Im Kontext der Angstgesellschaft ist das Rohmersche Meer der Möglichkeiten allerdings weniger lustvoll aufgeladen und taugt nur zu einem: zum Absaufen.