Ein neuer KESB-Fall beschäftigt das Land. Einer schweizerisch-philippinischen Famile in Solothurn wurde das Obhutsrecht für ihre zwei Töchter entzogen. Am Samstag setzte sich die Mutter mit den Kindern auf die Philippinen ab, der Vater sitzt inzwischen in Haft. Wie kommt es zu einem solchen extremen Eingriff in die Elternrechte? Antworten von Kindes- und Erwachsenenschutz-Experte Christoph Häfeli.
Wann nimmt der Staat Eltern die Kinder weg?
Christoph Häfeli: Grundsätzliche Voraussetzung für einen Obhutsentzug ist immer die Gefährdung des Kindeswohls.
Und wann sehen die Behörden dieses gefährdet?
Es gibt fünf Tatbestände, die zu einem Obhutsentzug führen können: Körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung, insbesondere der Einbezug der Kinder in elterliche Konflikte wie Scheidungen, dann Vernachlässigung oder wie man früher sagte «Verwahrlosung», sexuelle Übergriffe und sogenannte Autonomiekonflikte, das sind besonders heftig verlaufende Ablösungsproblematiken in der Pubertät oder in der Adoleszenz.
Was genau muss man sich unter «Vernachlässigung» vorstellen?
Das kommt stark aufs Alter des Kindes an. Einen Säugling sich selbst zu überlassen, kann innert Stunden tödlich enden. Solch verheerende Fälle sind selten, kommen aber immer wieder vor. Bei Schulkindern und Jugendlichen heisst Vernachlässigung nicht-altersgemässe Beaufsichtigung, aber auch mangelhafte Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Obdach.
Wie viele Kinder in der Schweiz sind von einem Obhutsentzug betroffen?
Die neuesten nationalen Zahlen stammen aus dem Jahr 2012. Damals gab es 1115 behördlich angeordnete Fremdplatzierungen. Um diese Zahl richtig einordnen zu können, muss man zwei weitere kennen: 2012 lebten in der Schweiz ca. 1,5 Millionen Personen unter 18 Jahren. Und total wurden in jenem Jahr 16’868 Kinderschutzmassnahmen angeordnet. Der grösste Teil entfiel auf Aufsichten und Erziehungsbeistandschaften, bei denen das Kind bei den Eltern bleibt. Diese Zahlen sind seit Jahren mehr oder weniger stabil, …
… gehen also gemessen an der wachsenden Bevölkerung eher zurück?
Richtig.
2013 wurden die kommunalen Vormundschaftsbehörden durch die professionellen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) abgelöst. Haben sich die Zahlen seither verändert?
Den Vorwurf, die KESB würden mehr Obhutsentzüge anordnen, hört man immer wieder. Leider haben wir für die Jahre ab 2013 gesamtschweizerisch noch keine verlässlichen Zahlen. Die neu geschaffenen Behörden wurden zu Beginn regelrecht mit Gefährdungsmeldungen überschwemmt und hatten mit diversen anderen Anfangsproblemen zu kämpfen. Hingegen verfügt der Kanton Zürich über aktuelle Zahlen, und hier sind die Obhutsentzüge leicht zurückgegangen. Ich bin in mehreren anderen Kantonen beratend tätig und sehe auch dort keine Anhaltspunkte für eine Zunahme.
Sie haben die Flut von Gefährdungsmeldungen an die KESB erwähnt. Ist es möglich, dass diese zugenommen haben?
Als die KESB geschaffen wurden, gab es sicher eine starke Zunahme. Vor allem Schulen, aber auch andere Fachleute mit beschränkten Möglichkeiten wandten sich gar schnell an die neue Profi-Behörde. Dasselbe Verhalten konnte bei den Gemeinden beobachtet werden, von denen einige zudem beleidigt waren, weil sie das Gefühl hatten, man habe ihnen etwas weggenommen. Wir sind hier auf dem Weg zur Normalisierung.
Was machen die KESB, wenn sie eine Gefährdungsmeldung erhalten?
Wenn eine akute Problemsituation vorliegt, etwa bei häuslicher Gewalt, müssen die Kinder umgehend in Sicherheit gebracht werden. Diese Fälle sind selten, kommen aber jedes Jahr einige Male vor. Weitaus häufiger sind Meldungen über auffälliges Verhalten aus dem sozialen Umfeld der Kinder, also Angehörige, Nachbarn oder Schulen. Die Behörde muss zunächst eine Sofort-Beurteilung der Meldung vornehmen, was im Normalfall zu weiteren Abklärungen führt. Einige KESB haben dafür eigenes Personal, andere beauftragen eine externe Fachstelle. Diese gehen dann vor Ort, sprechen mit den Hauptbetroffenen und dem Umfeld und schreiben einen Bericht. Auf dieser Grundlage fällt die Behörde dann einen Entscheid. Jedoch nicht ohne in der Regel vorgängig die Eltern und die betroffenen Kinder anzuhören.
Ist es denkbar, dass Eltern zunächst nicht über die Abklärungen informiert werden?
Das ist in Extremsituationen denkbar, wenn die Behörden Anhaltspunkte haben, dass die Eltern in der Folge den Zugriff vereiteln würden. Im Normalfall wird zuerst mit den Eltern gesprochen, und erst dann mit dem Umfeld.
Wann und wie oft überprüfen die KESB ihre Entscheide?
Bei Fremdplatzierungen gibt es mindestens zwei- bis dreimal pro Jahr eine sogenannte Standortbestimmung aller Beteiligten. Laut Gesetz erfolgt die erste sechs Monate nach der Platzierung, die zweite nach einem Jahr und anschliessend im Jahresrhythmus. Keine Behörde hat ein Interesse daran, solche Massnahmen länger als nötig aufrecht zu erhalten.
In einer idealen Welt werden die richtigen Massnahmen angeordnet, nach einer gewissen Zeit wieder aufgehoben und die Kinder kehren in den Schoss der Familie zurück. Ist es in der Realität so?
Leider nicht. Wir haben zwischen 2003 und 2008 im Rahmen einer Nationalfonds-Studie 200 Kinderschutzmassnahmen in vier Kantonen untersucht. Darunter das Alter der Kinder und wie lange die Massnahmen dauerten. Das Fazit war: Einmal errichtet, bleiben sie bis zur Volljährigkeit bestehen. 200 Fälle sind nicht sehr repräsentativ, aber ich kann aus meiner langjährigen Tätigkeit in diesem Bereich bestätigen, dass viele Massnahmen tatsächlich lange dauern. Bei Fremdplatzierungen liegen oft sehr gravierende Situationen zugrunde, die sich nicht schnell korrigieren lassen.
Was können Eltern gegen einen Entscheid der KESB unternehmen?
Sie können jederzeit ein Gesuch um Aufhebung des Obhutsentzugs stellen, das dann geprüft wird. Unmittelbar nach dem Entscheid können sie innerhalb von 30 Tagen Rechtsmittel ergreifen. Im aktuellen Fall hat ein Familiengericht in Laufenburg entschieden. Von dort hätten die Betroffenen ans Aargauer Obergericht gelangen können und anschliessend direkt ans Bundesgericht.
Werden KESB-Entscheide oft gerichtlich angefochten?
Auch hier fehlen uns leider verlässliche Zahlen. Aber vielleicht nicht so oft, wie der Aufschrei in manchen Fällen vermuten lässt. Natürlich sind Eltern nicht glücklich mit einem Obhutsentzug, aber viele sehen im Verlauf eines Verfahrens ein, dass es nicht anders ging. Ich verfolge die Rechtsprechung in diesem Bereich sehr genau und bin beeindruckt, wie schnell das Bundesgericht in den vergangenen zweieinhalb Jahren zu KESB-Entscheiden Stellung genommen hat.
Gibt es Untersuchungen, wie es fremdplatzierten Kindern später im Erwachsenenalter ergeht?
Im angelsächsischen Raum gibt es viele Untersuchungen zu dieser Frage, wir in der Schweiz haben diese Entwicklung leider etwas verschlafen. Einen kleinen Ausschnitt bietet das 2012 erschienene Buch «Kinderheim statt Kinderzimmer: Neun Leben danach» von Barbara Tänzler. Darin erzählen ehemalige Heimkinder, wie es ihnen ergangen ist. Die meisten von ihnen wurden nicht nachhaltig traumatisiert. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass wir in der Schweiz ein hochprofessionelles System von stationären Betreuungen haben. Die sind nicht alle gleich gut, aber insgesamt auf einem sehr hohen Niveau. Viele Kinder und Jugendliche, die in diesen Einrichtungen waren, wurden nachher lebenstüchtig.