Auf einmal wird ihr alles zu viel. In ihrem Kopf rattert es. Sie weiss nicht weiter. Eine Stimme sagt ihr, sie müsse abnehmen, sie müsse sich verändern. Sie solle auf Instagram die Bilder der anderen anschauen und genauso werden. Sie will nicht. Sie fängt an zu hyperventilieren. Die Luft wird knapp. Ihr wird schwarz vor Augen. Das Nächste, an das sie sich erinnert, ist, wie sie heulend in ihrem Zimmer sitzt. Das Handy noch in der Hand. Sie ist zusammengebrochen, sagt man ihr. «Instagram ist schuld», denkt sie sich. «Instagram ist schuld an meinem Zusammenbruch.»
«Ich will vollere Lippen», «ich wäre gern dünner» oder «mit mehr Kurven würde ich weiblicher aussehen». Diese Sätze schwirrten der heute 22-jährigen Tina Umbricht im Kopf herum. Immer wieder. Jedes Mal, wenn sie durch die Internetplattform scrollte und ein schönes Foto von jemandem angeblich Perfekten sah, unterstrich sie ihre eigenen Fehler. «Meine Lippen sind so klein», «ich bin zu dick» und «ich könnte mich mit meiner Figur niemals im Bikini zeigen». Ihre schwarzen Haare zu dunkel, ihre Mandelaugen zu klein, ihr Hals zu lang, ihr Körper zu wenig weiblich.
Jeden Morgen, gleich nach dem Aufstehen, nimmt sie das Handy in die Hand und öffnet die App. Wie eine Sucht fühlt sich das Scrollen durch Instagram an. Und je schöner die Frauen auf den Bildern sind, desto hässlicher fühlt sie sich.
Bereits mit 13 Jahren lud Tina sich Instagram herunter. Zu dem Zeitpunkt gab es die App erst ein Jahr, weltweit nutzten sie 10 Millionen Menschen. «Damals war die App noch harmlos. Da ging es nur darum, irgendwelche Bilder hochzuladen», sagt die Gränicherin. Landschaften, Tiere und Essen seien die beliebtesten Motive gewesen. Das Selfie war kaum vorhanden.
Ihr liebstes Motiv: Singvideos. «Ich hatte noch keinen Grund, Druck zu empfinden. Ich war frei und konnte alles hochladen, ohne mir dabeiGedanken machen zu müssen.» Mit der Zeit habe sich das geändert. Die Handys wurden besser und damit auch die Kameraauflösung. Langsam wurde Instagram zur Selfie-Landschaft. Mit Kussmund und Peace-Zeichen. 150 Millionen Personen nutzten 2013, als Tina 16 Jahre alt war, bereits Instagram.
Die Stunden verstreichen, und sie liegt immer noch im Bett. Das Handy in der Hand, und die Tränen laufen die Wangen herunter. Irgendwann kann sie nicht mehr weinen. Ihr Leben kommt ihr sinnlos vor. Allen scheint es gut zu gehen. Nur ihr nicht.
Bis zu acht Stunden am Tag verbrachte Tina auf Instagram. Selbst im Unterricht nahm sie das Handy immer wieder zur Hand. «Es war eine Sucht. Dauernd musste ich Instagram öffnen und schauen, was die anderen für ein Leben führen», sagt sie und streicht sich durch das schwarze Haar. Dass es ihr mit jedem Daumenwisch auf der App schlechter ging, habe die damals 16-Jährige nicht gemerkt.
Als Tina sich dann traute, vor einem Millionenpublikum zu singen und bei der RTL-Castingshow «Deutschland sucht den Superstar» mitzumachen, schnellten ihre Follower in die Höhe. Fast 30'000 waren es. Doch damit stieg auch der Druck. «Ich hatte das Gefühl, dass ich dazu verpflichtet bin, immer wieder Neues zu posten», sagt sie. Sie habe sich die bearbeiteten Schönheitsideale der Stars auf den sozialen Medien zum Vorbild genommen. Doch Ideale sind nun mal unerreichbar.
Die Instagram-Welt scheint die einzig richtige Welt zu sein. Alles sieht so echt aus. Das Gleiche will sie auch für sich haben, doch bei ihr ist alles dunkel und trist. Immer tiefer gerät sie in die Spirale.
Jugendliche, die durch die sozialen Medien derart Gefühle entwickeln, kennt Psychotherapeut Felix Hof gut. Seit mehreren Jahren arbeitet er mit Jungs und Mädchen, die sich selbst und die Realität aus den Augen verlorenhaben. «In den letzten Jahren haben sich die Zahlen der Jugendlichen, die unter den Folgen von Social Media leiden, mehr als verdreifacht», sagt er.Parallel zu der Popularität von Instagram. Derzeit sind über eine Milliarde Menschen auf dem Foto-Netzwerk aktiv. In der Schweiz waren es laut Schätzung der Marketingagentur
onlineKarma vom März 2020 insgesamt 2,7 Millionen. Fast ein Drittel der Nutzer sind zwischen 13 und 24 Jahre alt.
«Instagram ist eine Gefahrenquelle. Gerade für Jugendliche, weil sie die App nicht richtig einschätzen können. Es vertritt Ideale, die es so nicht gibt, und schafft seelische Notstände, die nicht da sein müssten», sagt Hof. Die Jugendlichen würden sich dauernd Fotos auf den Plattformen ansehen. Dass es sich dort um virtuelle Menschen handle, die im realen Leben ganz anders aussehen, würden die meisten nicht verstehen.
Ihr Umfeld spricht von Krankheit und Heilung. Dabei will sie nur ein normales Leben wie alle anderen auf Instagram. Dass alles nur Fassade ist, das erkennt sie nicht. Zuerst ist da die Eifersucht. Dann folgen Trauer und Selbsthass. Wenn sie nicht so sein kann wie die Frauen auf den Bildern, dann will sie gar nicht mehr sein.
Tina vertraute darauf, dass alles genau so ist, wie es auf Instagramgepostet wird. Die vollen Lippen, der dünne Bauch und die natürliche Sanduhr-Figur. Was anfangs noch ein Anhimmeln war, wurde zu einem krankhaften Verhalten. Sie schottete sich ab, wollte von niemandem etwas hören. Sie sei immer traurig gewesen, wollte nicht mehr aufstehen. Selbstzweifel und Hass hätten sie lange geplagt. Tina spricht von einem Teufelskreis.
Heute wisse sie, dass das ein toxisches Verhalten war. Damals habe sie nichts davon hören wollen. «Ich geriet immer tiefer in den Sog, nichts und niemand konnte etwas daran ändern», erinnert sie sich. Zwei Jahre lang habe sie sich mit Rasierklingen an den Armen geritzt. «Ich habe immer gesagt, dass mich eine Katze gekratzt hat», sagt sie und zupft an den Ärmeln ihrer hellbraunen Jacke. Heute bedecken grosse, schwarze Tattoos die Stelle. Niemand soll die Narben darunter sehen.
Erst als auf Instagram sogenannte «Exposed»-Profile aufkamen, konnte Tina klar sehen. Auf solchen Seiten werden die Bearbeitungen und Filter auf den Instagram-Fotos aufgedeckt. «Dann ist der Groschen bei mir gefallen. Ich verstand: ‹Hey, das ist alles nicht echt!› – und das hat vieles verändert.»
Zum ersten Mal ist ihr klar, dass sie Hilfe braucht. Dass sie in Therapie gehen muss. Dass sie ihrer Familie und ihren Freunden die Wahrheit sagen muss. Und dass sie damit aufhören muss. Denn sollte sie so weitermachen, weiss sie, dass es ein böses Ende nehmen wird.
Mit 20 Jahren liess sich Tina zwei Wochen lang in eine Klinik einweisen. «Ich musste mit dem Gedanken klarkommen, dass ich nicht so sein kann wie andere auf Social Media.» Heute weiss die 22-Jährige, dass sie unterDepressionen litt. Und damit ist sie nicht allein, geschätzte 10 bis 20 Prozent aller Jugendlichen sollen an der psychischen Störung leiden. Die sozialen Medien spielen hier eine grosse Rolle, wie eine Studie aus dem Fachmagazin «Journal of Adolescent Health» zeigt. Über ein Drittel der knapp 155000 befragten Jugendlichen aus 29 Ländern geben dort an, Social Media exzessiv zu nutzen und sich deswegen oft traurig und schlapp zu fühlen.
Sie alle folgen Influencern und Bloggern, die ein Leben darstellen, das nicht der Realität entspricht. Auch Schweizer Instagram-Stars zeigen sich gern so, wie sie eigentlich nicht sind – und spielen ein Ideal vor. So auch die Schweizer Influencerin und Gewinnerin der diesjährigen «Der Bachelor»-Staffel, Francesca Morgese.
Scrollt man durch ihr Profil, sieht man sehr viele stark bearbeitete Selfies, Reisebilder und schöne Kleider. Keine traurigen Momente, keine Schnappschüsse. Alles sieht schön und durchdacht aus. Eine perfekte Welt zeigt die 22-Jährige.
Influencer können junge Frauen in die Irre führen und indirekt daran schuld sein, dass sie jemand sein wollen, der gar nicht existiert. «Ich denke, dass meine Follower wissen, dass das alles unecht ist. Dass ich meine Bilder bearbeite und Filter benutze», sagt Francesca. Und wenn sie es nicht wissen? «Auf meinem Profil versuche ich, dass man es sieht. Ich zeige mich manchmal auch ungeschminkt. Mich macht es glücklich, schön auszusehen. Und wenn dafür etwas bearbeitet werden muss, dann ist das doch okay.»
Belügt man sich damit nicht selbst? «Nein. Ich stehe dazu und schäme mich auch nicht dafür. Ich kann damit gut leben, weil ich mir treu bin und mich immer noch im Spiegel erkenne. Ich bearbeite meine Nase zwar auf jedem Bild, aber dazu stehe ich auch. Ich bin wenigstens ehrlich und verneine es nicht, wie es andere Blogger tun. Das Wichtigste ist, dass man den Bezug zur Realität nicht verliert.»
Facetune, um das Gesicht zu bearbeiten. Falten und Pickel mit einem Klick wegradieren. Augen grösser und heller machen. Nase schmälern und spitzer machen – mit nur einem Klick. Haare länger und heller, wieder nur mit einem Klick. Bodytune, um den Körper zu verändern. Grössere Oberweite, einen pralleren Po und schmalere Hüften. Einmal klicken, ein bisschen über den Bildschirm wischen, und schon hat man eine ganz neue Figur.
Lightroom, um die Farben des Bildes, aber auch den Hintergrund anzupassen. Mit nur einem Wischen wird aus dem blauen Himmel ein unvergesslicher Sonnenuntergang. Photoshop war gestern. Man muss längst kein Profi mehr sein, um die eigenen Bilder vollkommen zu verändern. Heute reichen einige Apps und ein paar Klicks.
Wer aber seine Bilder im Nachgang nicht bearbeiten will, kann einfach auf Instagram Fotos mit direkt eingebautem Filter machen. Grosse Lippen, grosse Augen und schmale Nase – ein vollkommen verzerrtes Bild von einem selbst.
Psychotherapeut Hof sagt:
In der Therapie lernt sie, ohne die virtuelle Bestätigung der Menschen zu leben. Sie sagte sich stets: «Ich bin nur so schön wie die Anzahl Likes, die ich bekomme.» Um zu verstehen, dass das nicht so ist, muss sie ihr Profil löschen.
sagt Tina. Es sei eine harte Zeit gewesen. Sie habe sehr viel geweint, sich abgeschottet und 15 Kilogramm in sechs Monaten abgenommen. Aus dem einen Problem wurde ein anderes: Essstörung. Tina wollte nichts mehr essen. Weil sie durch das Löschen von Instagram keine Bestätigung in Form von Likes mehr bekam. Sie wusste nicht mehr, was an ihr schön ist. Ohne das Online-Feedback fühlte sie sich leer. Sie wollte nur noch schlafen und alles andere vergessen.
Die Zeit ohne Instagram sei anfangs hart gewesen: «Ich hatte richtige Entzugserscheinungen. Wollte dauernd auf die App klicken, aber sie war nicht da. Ich musste oft mit mir kämpfen, sie nicht doch wieder herunterzuladen.» Dass sie in einer Klinik war und andere Betroffene um sich hatte, habe ihr auf dem Weg der Besserung sehr geholfen.
Die Stunden vergehen langsam. Immer wieder meldet sich die Gewohnheit zurück. Sie will durch Instagram wischen, sich Bilder anderer ansehen. Stattdessen sieht sie sich ihre eigene Bildergalerie auf dem Handy an. Fotos von ihrem Hund, von ihren Freunden. So schafft sie es, stark zu bleiben.
Mit jedem vergangenen Tag sei es leichter geworden. Die innere Stimme, die von Tina verlangte, abzunehmen, war verschwunden. Sie habe auch nicht mehr an die fiktiven Personen und ihre fiktiven Leben gedacht. Dann konnte sie endlich abschalten. Sie verspürte keinen Drang mehr. Sie lechzte nicht mehr danach, das Leben anderer anzusehen und zu bewundern.
Knapp zwei Wochen später, am Ende der Therapie, habe Tina sich dann bereit gefühlt, sich Instagram wieder herunterzuladen.
Sie hat Angst, wieder rückfällig zu werden. Alles zu vergessen, was sie in der Therapie gelernt hat. Sie muss aber damit klarkommen. Sie klickt auf das bunte Instagram-Logo und gibt ihre Daten ein. Die verschiedensten Bilder erscheinen. Frauen im Bikini, glückliche Pärchen und schöne Selfies. Nichts hat sich verändert. Doch in ihr schon. Sie weiss jetzt, dass das alles nur gestellt ist. Dass nichts real ist.
Die zwei Wochen Therapie seien ein Erfolg gewesen, sagt Tina heute. Aus dem traurigen Mädchen ist eine glückliche Frau geworden, die viel lacht. Die ihr Handy einfach mal liegen lässt und stundenlang nicht draufschaut. Auch nicht, als es vibriert. Die fehlenden Kilos sind ebenso zurück, ihre Essstörung habe sie grösstenteils in den Griff bekommen. Ganz weg sei sie dennoch nicht. Sie habe noch immer Probleme, vor anderen zu essen. «Es muss jemand vor mir essen, damit ich es auch kann.» Trotzdem könne sie heute ein besseres Leben führen, auch die sozialen Medien in einem gesunden Masse nutzen.
Die Vorher-nachher-Bilder, die auf Instagram immer wieder auftauchen und das Vorher und Nachher der kosmetischen Eingriffe zeigen, sieht Tina nun mit anderen Augen: «Ich habe gelernt, dass alle nur einem Ideal hinterherjagen und im Endeffekt alle gleich aussehen, weil sie exakt dieselben Nasen und Lippen machen lassen.» Und so wolle sie nicht aussehen. Sie wolle keine Kopie von «zig anderen Instagram-Frauen» sein, die immer wieder auf dem Fotonetzwerk auftauchen.
Der Beautytrend, den die sozialen Medien hervorbringen, ist unter dem Namen «Instagram face» bekannt. Das US-amerikanische Magazin «The New Yorker» beschreibt dieses Gesicht als jung, mit glatter Haut, hohen Wangen, katzenartigen Augen, langen Wimpern, einer kleinen Nase und vollen Lippen. In den USA wollen viele Frauen ebendieses Gesicht haben und bringen deshalb ein von sich bearbeitetes Bild zum Schönheitschirurgen. «So will ich aussehen», heisst es. Ein Celebrity-Make-up-Artist sagt gegenüber dem amerikanischen Magazin:
Auch hierzulande werden Filler, Liftings und Botoxinjektionen immer beliebter. Denn um eine schmalere Nase zu haben, muss man sich heute nicht mehr unters Messer legen, eine Spritze reicht aus. Auch die Influencerin Francesca Morgese, die sich auf Instagram immer mit einer bearbeiteten Nase zeigt, will sie sich verkleinern lassen.
Tina hingegen hat gelernt, mit ihrer zu leben. Mit ihren Lippen habe sie jedoch noch immer zu kämpfen. Sie denkt über einen Eingriff nach. «Ich bin mir aber unsicher, eigentlich will ich natürlich bleiben.»
Sie lernt, sich selbst zu lieben, nutzt Instagram jetzt gewissenhafter. Heute weiss sie, dass ein Grossteil der Bilder bearbeitet ist. Auch sie benutzt Filter, welche die Farben des Bildes verändern. An ihrem Gesicht und Körper bearbeitet sie jedoch nichts. Denn heute mag sie sich so, wie sie ist. Auch ohne aufgespritzte Lippen, einen immer flachen Bauch und die instagramtypische Sanduhr-Figur.
Verhaltensanalyse
Psychotherapeut Felix Hof rät, das eigene Verhalten zu analysieren. Sich folgende Fragen zu stellen: Was mache ich auf Instagram? Welche Ziele verfolge ich? Wie fühle ich mich, wenn ich die Bilder anschaue? Verspüre ich Sehnsüchte oder gewisse Wünsche? Man solle sich immer mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen, damit die schlechten Emotionen nicht die Überhand nehmen.
Realitätsprüfungen
Laut Hof solle man immer wieder sicher gehen, dass man sich noch in der realen Welt bewegt. Soziale Kontakte und ein Leben ausserhalb der App seien massgebend.
Nutzung der App
Um nicht nur ein Online-Leben zu haben, solle man die Nutzung der sozialen Medien geringhalten. Eine Stunde am Tag reiche vollkommen aus, sagt Hof. Ausserdem solle man darauf achten, was für ein Inhalt angesehen wird. Möglichen Triggern entfolgen, damit sie gar nicht erst auftauchen.
Hasskommentare löschen
Cyber-Bullying ist ein grosses Thema in der heutigen Gesellschaft. «Wenn man hinter einem Bildschirm sitzt, ist es plötzlich ganz leicht, andere fertig zu machen», sagt der Psychotherapeut. Andere daran hindern, könne man nicht. Jedoch solle man die Kommentare immer löschen, sich auf die guten Eigenschaften fokussieren und auf die Meinung des Umkreises hören.
Dieser Text wurde als Diplomarbeit an der Schweizer Journalistenschule MAZ verfasst.
"Facebook-Konzern plant Instagram für 12-Jährige (und noch jünger)" *
Hinter dem, was unseren Kindern angetan wird, steckt die Profitgier von Erwachsenen. Es ist eine Form des Kindsmissbrauchs. Als Eltern können wir die Kinder nur begrenzt davor schützen. Höchste Zeit, dass die Gesetzgebung eingreift.
* https://www.watson.ch/!374417838