Schweiz
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Caritas fordert Ergänzungsleistungen für alle – aus diesen Gründen

Caritas fordert Ergänzungsleistungen für alle – aus diesen Gründen

Um Armut zu bekämpfen, will Caritas das System der Sozialleistungen umkrempeln: Künftig sollen alle armutsbetroffenen Menschen Ergänzungsleistungen erhalten - und zwar unabhängig von ihrem Wohnort, ihrer Problemlage oder ihrem Aufenthaltsstatus.
11.07.2023, 10:12
Chiara Stäheli / ch media
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Armut war in der Schweiz bis vor kurzem zu einem grossen Teil unsichtbar. Die Corona-Pandemie draengt jetzt viele Menschen, die bisher an oder knapp ueber der Armutsgrenze lebten, in eine existenziell ...
In der Schweiz leben 750’000 Personen unterhalb der Armutsgrenze – also jede zwölfte Person.Bild: keystone

Die Leistungen reichen von der Invaliden- über die Arbeitslosenversicherung bis hin zur AHV, dem Erwerbsersatz und den Ergänzungsleistungen: Das System der sozialen Absicherung ist komplex - und weist aus Sicht der Caritas zahlreiche Schwachstellen und Lücken auf: «Einerseits sind gewisse Risiken und Personengruppen schlecht abgesichert, andererseits kann die Existenz vieler Menschen mit den geltenden Leistungen nicht gesichert werden», sagt Aline Masé, die bei Caritas Schweiz den Bereich Sozialpolitik verantwortet. Hinzu komme, dass die Bedarfsleistungen wie etwa die Prämienverbilligung und die Sozialhilfe kantonal sehr unterschiedlich geregelt seien.

Dabei ist ein existenzsicherndes Einkommen auch hierzulande keine Selbstverständlichkeit: Gemäss Angaben des Bundesamts für Statistik sind in der Schweiz knapp 750'000 Personen von Armut betroffen - Tendenz steigend. Als arm gilt beispielsweise eine vierköpfige Familie, welche nach Abzug der Krankenkassenprämien und der Steuern monatlich knapp 4000 Franken zur Verfügung hat für Güter des täglichen Bedarfs und die Wohnkosten.

Ab wann gilt man in der Schweiz eigentlich als arm?

Video: srf/Roberto Krone

Wer zu wenig hat, soll Ergänzungsleistungen erhalten

Eingeführt wurden die Sozialversicherungen, um allen Menschen in der Schweiz finanzielle Sicherheit zu bieten. Wer wenig Geld hat, hat zusätzlich Anrecht auf sogenannte Bedarfsleistungen, also etwa die Prämienverbilligung. Doch das genügt nicht in allen Fällen, sagt Masé: «Im jetzigen System fallen immer wieder Menschen durch die Maschen, weil die Leistungen nicht ausreichen oder nur unter bestimmten Umständen ein Anspruch besteht.»

Als Beispiel nennt Masé die Arbeitslosenversicherung: Wer lange genug eingezahlt hat, erhält nach dem Jobverlust während maximal zwei Jahren 70 bis 80 Prozent des Lohns. Gerade bei tiefen Löhnen reiche dies aber oftmals nicht. In der Folge müssten die Betroffenen Sozialhilfe beziehen. Das sei nicht nur mit Scham behaftet, sagt Masé, «die Leistungen reichen auch kaum für die Existenzsicherung».

Aus diesem Grund fordert Caritas Schweiz eine Abkehr vom heutigen System. Das geht aus einem Positionspapier hervor, das CH Media vorliegt. Künftig sollen all jene Menschen Ergänzungsleistungen erhalten, die ihren Lebensunterhalt nicht alleine finanzieren können. Oder wie Masé sagt: «Wenn das Geld nicht zum Leben reicht, wird das Einkommen bis zum notwendigen Bedarf aufgestockt.»

Dieses Modell wird bereits heute bei der AHV und der IV angewandt: Reichen die AHV-Rente und die Einnahmen aus der Pensionskasse sowie der privaten Vorsorge nicht aus, erhält eine pensionierte Person Ergänzungsleistungen. Ähnliche ergänzende Leistungen gibt es auch für Familien, allerdings nur in den Kantonen Waadt, Genf, Solothurn und Tessin. Die Höhe wird individuell festgelegt und hängt von zahlreichen Faktoren ab - etwa von der Familien- und Wohnsituation sowie allfällig vorhandenem Einkommen und Vermögen. Im Jahr 2023 beträgt der Betrag für die Deckung des allgemeinen Lebensbedarfs - ohne Wohnen und Krankenkasse - 20'100 Franken für eine Einzelperson. Die Leistungen der Sozialhilfe sind im Vergleich deutlich tiefer.

Höhere Kosten erwartet

Geht es nach der Caritas, sollen Ergänzungsleistungen künftig also nicht nur IV- und AHV-Bezügern zugutekommen, sondern allen Menschen, deren Einnahmen die existenzsichernden Ausgaben unterschreiten. «Und zwar unabhängig davon, was der Grund für den Bedarf ist - also etwa Invalidität, Betreuungspflichten, Arbeitslosigkeit oder Krankheit», betont Masé. Auch der Aufenthaltsstatus und der Wohnort sollen keine Rolle mehr spielen. Ziel sei, dass die finanzielle Absicherung künftig in der ganzen Schweiz gleich hoch und gleich umfassend ausfalle.

Dass dies zu höheren Kosten führen könnte, bestreitet Masé nicht. Sie ist allerdings überzeugt, dass die «Verwaltungskosten deutlich sinken würden», wenn die Leistungen künftig aus einer Hand erfolgen, wie es die Caritas fordert. Das Hilfswerk sieht sein Positionspapier als Denkanstoss. Letztlich müsse die Politik entscheiden, was es ihr wert sei, «den Menschen im Land ein würdiges Dasein zu ermöglichen», so Masé. (aargauerzeitung.ch)

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36 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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DN62
11.07.2023 12:25registriert November 2015
Zuallererst sollte man Löhne bezahlen die zum Leben reichen und dann die bizarren Krankenkassen abschaffen zugunsten einer über Lohnprozente finanzierten Grundversicherung. Dann die Steuern für Arbeitende mit Grundlohn drastisch reduzieren und direkt vom Lohn abziehen. Steuererklärung nur noch auf Eigenwunsch.
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Onyx
11.07.2023 10:27registriert Dezember 2014
Das mit den Verwaltungskosten denke ich mir schon lange. So viel wie da analysiert und geprüft wird, wird viel Geld verschwendet, was nicht bei den Bedürftigen ankommt.
Und Betrüger wird es immer geben. Die schlängeln sich um alle Regeln, während die echten Bedürftigen am Ende zu kurz kommen.

Einzig wie Sozialtourismus bei dem vorgeschlagenen System verhindert werden soll, da habe ich Fragezeichen.
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Minerva McGone
11.07.2023 10:25registriert Dezember 2021
Die Idee ist gut - aber nur wenn gleichzeitig Mindestlöhne eingeführt werden. Sonst gibt es sicher Unternehmen, die beliebig tiefe Löhne zahlen und meinen, den Rest zahle dann der Staat.
Also: Gern EL für alle, die aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten können, und da zählen für mich auch Teilzeitarbeit zugunsten von Care-Arbeit dazu, aber alle die 100% arbeiten, sollen auch einen Lohn erhalten, von dem sie menschenwürdig leben können.
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