Das Bundesgericht in Lausanne fällte im September einen historischen Entscheid: Das Demonstrationsverbot des Kantons Bern war verfassungswidrig. Nun, rund drei Monate später, liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor.
Darin zeigt sich vor allem eines: Die Bundesrichterinnen und Bundesrichter machten sich den Entscheid nicht leicht. Inhaltlich ging es in erster Linie um zwei Fragen: Durfte der Kanton Bern überhaupt ein Demo-Verbot beschliessen, das weiter geht, als es der Bundesrat vorsah? Und ging er damit wirklich zu weit, wie es dies eine Reihe von linken Parteien und Organisationen in der Beschwerde behaupteten?
Das Bundesgericht beantwortete beide Fragen mit «Ja». Es berücksichtigte, was Corona-relevante Gesetze dazu sagen und kam zum Schluss: Die Kantone dürfen und sollen selbst weitergehende Massnahmen beschliessen. Im Epidemiengesetzes sei etwa ausdrücklich festgeschrieben, dass Kantone «Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, namentlich auch Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen» beschliessen dürften.
Und genau das tat der Kanton Bern mit seinem Quasi-Demo-Verbot, das politische Kundgebungen mit mehr als 15 Personen generell verboten hatte. Das Bundesgericht beschäftigte sich sodann mit der Frage, ob die radikalere Einschränkung in Bern im Einklang mit der Verfassung war. Der Regierungsrat meinte dazu: Habe sich einmal eine grössere Zahl von Personen zusammengefunden, sei es kaum möglich, bei Missachtung der Vorgaben die Veranstaltung mit verhältnismässigen polizeilichen Mitteln aufzulösen.
Zudem erwähnte der Regierungsrat die besondere Rolle der Stadt Bern als Bundesstadt: «Gerade auch die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass es Situationen mit grossen Kundgebungen von ‹Corona-Skeptikern› sowie grossen Gegendemonstrationen gäbe», zitiert das Bundesgericht den Kanton Bern, der zum Schluss kam: Ohne ein Veranstaltungsverbot wäre im Bundesstadt-Kanton das epidemiologische Risiko angestiegen. Und sowieso spiele es «aus epidemiologischer Sicht» keine Rolle, ob eine grosse Menschenmenge sich zu einer politischen Demo oder zu anderen Zwecken zusammenfinde.
Dem widersprachen die höchsten Richterinnen und Richter: «Das bedeutet allerdings nicht zwingend, dass alle Veranstaltungen gleich zu behandeln wären, da es sachliche Gründe für eine unterschiedliche Behandlung geben kann.» Und es verwies auf die langjährige Haltung des Bundesgerichts, wonach Demonstrationen einen hohen Stellenwert hätten, weil ihnen eine «zentralen Bedeutung für die Meinungsbildung in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, besonders auch in politisch unruhigen Zeiten, zukommt».
Ein Demo-Verbot, so wie es in Bern beschlossen wurde, möge zwar im öffentlichen Interesse sein, ja sogar epidemiologisch gerechtfertigt. Ein Kanton dürfe sogar strengere Regeln beschliessen, wenn es das Risiko verlangt. Es dürfte aber nicht beliebig strenge Massnahmen getroffen werden, um jegliche Krankheitsübertragung zu verhindern. Insbesondere dann nicht, wenn andere Grundrechte betroffen seien: Hier müsse man schauen, was das «akzeptable Risiko» noch erlaube und die verschiedenen Interessen abwägen.
Hier scheiterte der Kanton Bern mit seiner Argumentation. Das Bundesgericht anerkannte, dass im Kanton Demonstrationen bewilligungspflichtig seien und Kundgebungen unter freiem Himmel ein geringeres Risiko bilden würden als in geschlossenen Räumen. Hier begann der Kanton in den Augen des Bundesgerichts den Denkfehler: Statt alle Demonstrationen mit mehr als 15 Personen zu verbieten, hätte er im Rahmen von Kundgebungsbewilligungen «Randbedingungen, allfällige Auflagen, und eventuelle Alternativen» prüfen sollen – schliesslich könne man von Demonstrations-Veranstaltern ja eine verhältnismässige Mitwirkung verlangen. Damit dürfte das Bundesgericht vermutlich das Tragen von Masken oder Distanzregeln gemeint haben.
Da mit diesem Vorgehen eine Alternative bestand, entschied das Bundesgericht, dass das Berner Demo-Verbot «nicht erforderlich» war.
Produzierte das Bundesgericht mit diesen Entscheidungen bloss Juristenfutter? Mitnichten. Die Richterinnen und Richter in Lausanne betonten in ihrem Urteil den Stellenwert von physischen Demonstrationen als Mittel der demokratischen Meinungsäusserung. Kundgebungen würden sich nämlich nicht an Gleichgesinnte oder Interessierte richten, sondern hätten auch Passanten oder Medien im Visier. Oder in den Worten des Gerichts: «Kundgebungen auf öffentlichem Grund bilden somit ein wirksames Forum, sich in der breiten Öffentlichkeit und den Massenmedien wirksam Gehör zu verschaffen. Insofern erfüllt die Versammlungsfreiheit auch eine Ventil- sowie eine ‹Warn-, Kontroll- und Innovationsfunktion›.»
Das sei gerade im Zusammenhang mit der Covid-19-Epidemie eine «besonders wichtige Rolle», da zahlreiche Grundrechte eingeschränkt wurden. Mit seiner rigiden Einschränkung von Menschenansammlungen habe der Kanton Bern jedoch Ausübung der Versammlungsfreiheit nahezu «verunmöglicht», was letztlich einem «faktischen Verbot» von Kundgebungen gleichkam.
(Urteil des Bundesgerichts vom 3. September 2021 [2C_308/2021])
Von wegen Diktatur. In einer funktionierenden Demokratie leben wir, nirgend anders!
Ich beziehe mich hierbei spezifisch auf Demonstrationen die in diesem Zeitraum stattgefunden haben die zu diesem Zeitpunkt als illegal galten.