Ein rotweisser Fleck in einem blauen Meer. So präsentiert sich die Schweiz auf der politischen Landkarte Europas. Ziemlich genau in der Mitte der Europäischen Union liegt der «Störenfried», der seine eigenen Wege geht und den Beitritt verweigert.
Auch im Brüsseler Europaviertel liegt die Schweiz mittendrin. Ihre Ständige Mission bei der EU befindet sich an der Place du Luxembourg, direkt neben dem EU-Parlament. Bis zur EU-Kommission sind es wenige Minuten zu Fuss.
Derzeit verhandeln die Schweiz und die EU über ein institutionelles Rahmenabkommen. Je nach Standpunkt soll es den bilateralen Weg konsolidieren oder zu einem «schleichenden EU-Beitritt» (Blocher/SVP) führen. Unter dem neuen Aussenminister Ignazio Cassis laufen die lange blockierten Gespräche wieder auf Hochtouren, ein erfolgreicher Abschluss scheint möglich.
So gross die physische Nähe auch sein mag. Mental scheinen sich die Schweiz und die EU auf zwei verschiedenen Planeten zu befinden. Dies zeigen die Gespräche, die ich während eines mehrtägigen Aufenthaltes in Brüssel mit Vertretern beider Seiten geführt habe. Dabei sind sie auch voneinander abhängig. Allerdings ist diese Abhängigkeit asymmetrisch.
Die Schrifttafel des Künstlers Ben Vautier, die den Schweizer Pavillon an der Weltausstellung 1992 in Sevilla zierte, hat die Nationalkonservativen noch Jahre später in Aufruhr versetzt. Aus Brüsseler Warte hat man tatsächlich den Eindruck: Die Schweiz existiert nicht. Nur wenige in der EU beschäftigen sich mit ihr. Es sind vor allem diejenigen, die in die Verhandlungen involviert sind.
Immerhin hat die Schweiz einen Freund ganz oben. Der viel gescholtene Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Verhandlungen zur Chefsache erklärt. «Juncker ist nicht der Schlechteste für euch, er versteht die Schweiz mehr als jeder andere», sagt ein EU-Vertreter. Im nächsten Jahr tritt der Luxemburger ab. Ohne ihn könnte es schwierig für die Schweiz werden.
Warum aber wird die Schweiz in Brüssel kaum wahrgenommen? Der Hauptgrund ist ihr geringes politisches Gewicht. Die Maxime, sich «nicht in fremde Händel» einzumischen, gehört quasi zur helvetischen DNA. Es entbehrt nicht der Ironie, dass jene Kreise, die die politische Verzwergung der Schweiz zum Dogma erklären, von ihr ein hartes Auftreten gegenüber der EU fordern.
In einer Hinsicht aber ist die Schweiz eine Art Muskelzwerg. Wirtschaftlich hat sie eine grosse Bedeutung. «Wir sind der drittgrösste Handelspartner der EU, mit deutlichem Abstand vor Russland, Indien oder Brasilien. Die EU erzielt mit uns einen Handelsüberschuss von 40 Milliarden Franken. Wir absorbieren zehn Prozent des Personenverkehrs in Europa», rechnet ein Vertreter der offiziellen Schweiz vor.
Auf der Gegenseite ist die Abhängigkeit wesentlich grösser. 54 Prozent aller Schweizer Exporte gehen in die EU. 1,5 Millionen Arbeitsplätze hängen davon ab. Jeden dritten Franken verdient die Schweiz im Austausch mit der EU. Das Handelsvolumen beträgt eine Milliarde Franken pro Tag. Daran wird sich auch dann so schnell nichts ändern, wenn die Schweiz neue Märkte erschliesst.
Ein Vertreter der Maschinenindustrie, deren Exporte zu 80 Prozent in die EU gehen, hat es mir gegenüber vorgerechnet: «Wenn der Handel mit China um ein Prozent zunimmt, ist das schön und gut. Wenn er mit Europa um ein Prozent schrumpft, tut das sehr weh.» Wen wundert es da, dass die Schweiz weit stärker auf die EU fixiert ist als umgekehrt. Man denke nur an die diversen Ausgaben der SRF-«Arena», die allein in diesem Jahr zur Europapolitik gesendet wurden.
Die unterschiedliche Wahrnehmung wird zusätzlich belastet durch die Tatsache, dass in den Verhandlungen zwei Philosophien aufeinander prallen. Während die Schweiz der EU Dogmatismus vorwirft, wird sie umgekehrt der Rosinenpickerei bezichtigt. «Die Schweiz sagt, ihr solltet froh sein, dass wir teilweise am Binnenmarkt mitmachen. Wir denken, ihr solltet eigentlich beitreten», bringt es ein mit den Verhandlungen vertrauter EU-Vertreter im Gespräch auf den Punkt.
«Ihr könnt nicht ewig davon ausgehen, dass ihr alles bekommt und nichts geben müsst», sagt Alexandre Stutzmann von der Generaldirektion für Aussenbeziehungen des EU-Parlaments. Eine Aussage, die man durchaus als Affront empfinden kann, zumal sie ausgerechnet von einem der wenigen echten Schweiz-Freunde in Brüssel stammt. Und doch zeigt sie exemplarisch, wie schwer eine Einigung zwischen beiden Seiten ist.
«Es gibt einen Grund, warum die Schweiz gegenüber der EU skeptisch ist. Wir haben einen Reflex gegen Machtakkumulation», sagt der Vertreter der Schweiz. «Die Schweiz ist immer ein Sonderfall gewesen, aber die Bereitschaft hat sich geändert, damit umzugehen», erwidert der EU-Beamte. Ausnahmen würden heute kritischer beurteilt, auch mit Blick auf andere Länder. «Deshalb geht man gegenüber der Schweiz strikter vor.» Es ist wahrlich ein kompliziertes Verhältnis.
Rechte Kreise in der Schweiz propagieren als Alternative zum Rahmenvertrag ein erweitertes Freihandelsabkommen, nach dem Vorbild des CETA-Deals der EU mit Kanada. Es enthält viele Handelserleichterungen, aber keine Personenfreizügigkeit. Aus SVP-naher Perspektive ist das eine Art Idealzustand. In Brüssel allerdings wird die Idee von Schweizer wie EU-Seite verworfen.
Der Hauptgrund ist auch in diesem Fall die Geografie. Die Schweiz liegt nicht wie Kanada jenseits des Atlantiks, sondern eben mittendrin. «Ein Freihandelsabkommen garantiert keinen friktionsfreien Handel», sagt der EU-Vertreter. Hinzu kommen weitere Interessen der Schweiz: Die Koordinierung der sozialen Sicherheit, der Land- und Luftverkehr oder das Abkommen von Schengen/Dublin.
Eine weitere Forderung von bürgerlicher Seite lautet, auf den Ausgang der Verhandlungen über den Austritt Grossbritanniens aus der EU zu warten. Dabei könnte sich für die Schweiz eine Alternative zum Rahmenabkommen entwickeln. Diese Stimmen sind allerdings leise geworden, wofür in erster Linie das Chaos im Vereinigten Königreich verantwortlich sein dürfte.
Zwei Jahre nach der Abstimmung wissen die Briten immer noch nicht, was sie wollen, sehr zum Ärger der EU. Die regierenden Konservativen sind tief gespalten in Anhänger eines harten und eines möglichst weichen Bruchs mit dem «Kontinent». Warten auf den Brexit ist für die Schweiz keine Option, sind sich die beide Seiten in Brüssel einig. «Der Spielraum der Kommission gegenüber der Schweiz hat sich durch den Brexit reduziert», sagt der EU-Vertreter.
Braucht die Schweiz folglich ein institutionelles Rahmenabkommen? Auf den ersten Blick nicht, der bilaterale Weg funktioniert ganz ordentlich. Aber die heutigen Verträge sind statisch, sie müssen ständig auf den neuesten Stand gebracht werden. Und für neue Abkommen, etwa einen Anschluss an den digitalen Binnenmarkt, macht die EU das Rahmenabkommen zur Bedingung.
Es ist entgegen der landläufigen Meinung nicht nur ein Anliegen der Europäer. Auch der Bundesrat will es, wie Aussenminister Cassis bei seinen Auftritten betont. Die meisten Parteien und die Wirtschaftsverbände haben sich nach langem Zögern ebenfalls zu diesem Weg bekannt, zumindest im Grundsatz. Die EU-Gegner werden es trotzdem kategorisch bekämpfen.
Auf der anderen Seiten gibt es Stimmen, die auf ein Scheitern der Verhandlungen hoffen, weil dadurch ein EU-Beitritt näher rücken könne. Diese Sicht ist leicht zynisch. So lange eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Beitritt ablehnt und gleichzeitig nicht auf den lieb gewonnenen Wohlstand verzichten will, ist das Rahmenabkommen quasi alternativlos, auch wenn sich die Schweiz damit immer tiefer in die EU-Strukturen einbindet.
Die Schweiz ist eben mittendrin, sie kann der EU nicht entkommen. So ähnlich sagte es der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer vor bald drei Jahren im Interview mit watson. Er meinte auch, der bilaterale Weg habe mittelfristig keine Zukunft: «Er ist viel zu kompliziert.» Vielleicht können wir als «Sonderfall» einfach nicht anders.