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Energiekrise: Warum Erdgasförderung im Tessin nicht realistisch ist

Brennen die Gasfackeln bald in der Schweiz?
Brennen die Gasfackeln bald in der Schweiz?bild: shutterstock
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Die Utopie der Unabhängigkeit – warum Erdgasförderung im Tessin nicht realistisch ist

Eine Investorengruppe will im Tessin nach Erdgas bohren. SVP-Nationalrat Christian Imark unterstützt diese Idee. 5 Gründe, warum das nicht realistisch ist.
07.07.2022, 11:2008.07.2022, 09:42
Dennis Frasch
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Der Schweiz droht im nächsten Winter eine akute Gasknappheit. Mitte Juni hat Russland die Lieferungen über die Nord-Stream-1-Pipeline unter einem technischen Vorwand um 60 Prozent gedrosselt. Moskau könnte sich gar dazu entscheiden, die Lieferungen komplett zu stoppen.

Ein solcher Schritt wäre verheerend für Europa und die Schweiz, dessen Gasmarkt fast zu hundert Prozent von Importen abhängig ist. Die Füllung der europäischen Gasspeicher für den Winter wäre nicht mehr gewährleistet.

Der Bundesrat hat deswegen letzte Woche einen Notfallplan für dieses Szenario präsentiert. Dieser sieht die Einrichtung physischer Gasreserven im umliegenden Ausland vor sowie die Umstellung von Gas auf Öl. Ultimativ würde der Bundesrat Sparappelle erlassen oder gar Kontingentierungen einführen.

Eine Steilvorlage für findige Unternehmer und Politiker, die in den letzten Wochen auf die scheinbar einfachste aller Lösungen hinwiesen: Wieso nicht einfach in der Schweiz Erdgas fördern?

Hierzulande schlummerte genug Erdgas, um den Bedarf für die nächsten zwei bis drei Generationen zu decken, sagte der Unternehmer Pietro Oesch gegenüber den Tamedia-Zeitungen. Der «Pionier der Gasexploration» will die Gunst der Stunde nutzen und im Tessin nach Erdgas bohren. Diese Idee verfolgt der Unternehmer bereits seit über 20 Jahren, sie wurde jedoch aus finanziellen Gründen 2018 auf Eis gelegt.

Nun soll alles anders werden. Die hohen Gaspreise würden eine Förderung in der Schweiz rentabel machen. Eine Investorengruppe hätte ihr Interesse bereits angemeldet. «Wenn alles rund läuft und uns die verantwortlichen Behörden unterstützen, können wir ab Ende 2025 in der Schweiz Erdgas fördern», sagt Oesch. Das Ganze soll ganz sauber, ohne Fracking, Wasserverschmutzung oder Einsatz von Chemikalien möglich sein.

Christian Imark (SVP/SO) waehrend der Beratungen zum neuen Militaergesetz am Mittwoch, 2. Dezember 2015 im Nationalratssaal in Bern. (KEYSTONE/Lukas Lehmann)
SVP-Nationalrat Christian Imark.Bild: KEYSTONE

Unterstützung erhält die Idee aus der Politik: Der Solothurner SVP-Nationalrat Christian Imark reichte im Mai eine Interpellation ein, in der er vom Bundesrat detaillierte Antworten über das Potenzial von Gasförderung in der Schweiz verlangte. «Einheimisches Erdgas kann uns helfen, viele Probleme zu lösen», sagte er gegenüber der «Sonntagszeitung».

Sauberes, rentables Erdgas aus der Schweiz, das vor einer Energiekrise bewahren soll? Klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Bei genauerer Betrachtung ist es das auch. Aus folgenden fünf Gründen:

Das Gas ist bislang nicht viel mehr als heisse Luft

Die Öl- und Gasindustrie hat seit den 1970er-Jahren ausgiebig nach Erdgasvorkommen in der Schweiz gesucht. Die Ergebnisse waren jedoch immer bescheiden. Einzig in Finsterwald im Kanton Luzern wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren Erdgas gefördert. Das Projekt wurde jedoch beendet, weil es zu teuer war.

In Finsterwald im Kanton Luzern wurde bereits vor 40 Jahren Erdgas gefördert.
In Finsterwald im Kanton Luzern wurde bereits vor 40 Jahren Erdgas gefördert.bild: Peter Hahn (ETH-Bibliothek Zürich)

Gas-Pionier Pietro Oesch und seine Firma Timetan haben im Tessin für 2,7 Millionen Franken Abklärungen und seismische Messungen durchgeführt. Die Resultate seien erfolgversprechend gewesen, heisst es im «Tages-Anzeiger». Wie viel Gas tatsächlich gefördert werden könnte, konnte aber nie beziffert werden.

Fabien Lüthi vom Bundesamt für Energie erzählt eine andere Geschichte: «Im Tessin gab es zwar Prospektionen, aber keine Bohrungen, die das Vorhandensein von Gas bestätigen.» Nach derzeitigem Kenntnisstand seien abbaubare Lagerstätten deswegen rein hypothetisch «und mit grossen Unsicherheiten behaftet».

Selbst Patrick Lahusen, der seit Jahrzehnten in der Schweiz nach Öl und Gas bohrt, ist bezüglich des Umfangs der Lagerstätte unter dem Lago Maggiore skeptisch: «Im See gibt es immer wieder Gasaustritte. Das heisst, das Reservoir rinnt», sagte der 77-Jährige gegenüber dem «Blick».

Krieg und Gasförderung liegen auf unterschiedlichen Zeitachsen

Diese Unsicherheiten führen direkt zu Problem Nummer zwei. Die Versorgungssicherheit ist für den kommenden Winter nicht mehr gewährleistet. Moskau könnte bereits Ende Juli einen Exportstopp verhängen. Auf der anderen Seite ist es ausgeschlossen, dass in der Schweiz in den nächsten drei Jahren Erdgas gefördert werden könnte. Pietro Oesch bestätigte dieses Problem gleich selbst. Falls alles rund laufe, könne man ab Ende 2025 Gas fördern.

Ein sehr optimistischer Zeitplan, welcher bereits im ersten Schritt scheitern könnte. Der geologische Untergrund der Schweiz liegt in der Kompetenz der Kantone, sprich: Der Kanton Tessin müsste erst einen regulatorischen Rahmen schaffen. Noch wäre dies theoretisch möglich – anders als in den Kantonen Waadt, Neuenburg und Genf. Dort ist die Erkundung und Förderung von Erdgas bereits verboten.

Die Moratorien in der Westschweiz kamen aufgrund des Drucks der Grünen zustande, welche erfolgreich gegen Förderprojekte in den jeweiligen Kantonen vorgingen. Etwaigen Vorhaben im Tessin würde ein ähnliches Schicksal drohen: «Die Grünen würden eine Gasförderung im Tessin bekämpfen», sagt Grünen-Nationalrat Bastien Girod.

Angenommen, der Kanton Tessin würde es trotzdem erlauben. Es wäre äusserst unwahrscheinlich, dass Schweizer Gas vor dem Jahr 2030 hiesige Wohnungen wärmen würde. «Basierend auf den jüngsten Bohrerfahrungen dauert ein Projekt zum Abbau einer unterirdischen Ressource von der Planung bis zur Förderung des Rohstoffes mindestens sieben bis zwölf Jahre», sagt Fabien Lüthi vom Bundesamt für Energie.

Unabhängigkeit ist eine Illusion

Die Schweiz wird aber nicht nur aufgrund der langen Realisierungsphase abhängig bleiben vom Ausland. Es gibt ein weiteres Problem: Die Schweiz besitzt gar keine grossen Gaslager. Doch wer Gas fördern will, muss es auch lagern können. Momentan setzt die Schweiz auf die Unterstützung von Frankreich: Schweizer Gasreserven werden in einem Speicher bei Lyon gelagert.

Technologien und Optionen für eigene Gaslager gäbe es. Im Kanton Wallis wird es bereits konkret: Das Westschweizer Versorgungsunternehmen Gaznat will in Obergoms ein enormes Gaslager bauen. Das Unternehmen will Stollen ins Gestein treiben und im Innern des Berges Kavernen ausbrechen.

Das Lager könnte 1,5 Terawattstunden Gas speichern. Das entspricht knapp fünf Prozent des jährlichen Erdgasverbrauchs der Schweiz. Theoretisch bräuchte man also 20 solche Speicher, um komplett unabhängig zu sein vom Ausland.

«Das sind keine Projekte, die man bis zum nächsten Winter realisieren könnte», sagt Michael Schmid vom Verband der Schweizerischen Gasindustrie VSG.

Fragwürdige Wirtschaftlichkeit

Unabhängige Gaslagerung ist aber nicht nur ein Projekt der fernen Zukunft, sondern auch kostspielig. Gaznet rechnet mit 400 Millionen Franken für ihren Gasspeicher. 20 davon würden dementsprechend acht Milliarden Franken kosten.

Zurück zur Gasförderung: Laut Unternehmer Pietro Oesch würde sich angesichts der hohen Gaspreise die Förderung in der Schweiz nun lohnen. Beweisen kann er das nicht. Ganz abgesehen davon, dass niemand weiss, wie teuer Gas in zehn Jahren sein wird.

Michael Schmid vom VSG verzichtete bei der Rentabilitätsfrage vielsagend auf eine Antwort, beim Bundesamt für Energie heisst es lediglich: «Es liegt an der Industrie zu beurteilen, ob eine Investition in solche Projekte sinnvoll ist, auch wenn in der Schweiz nur wenig technisches Know-how vorhanden ist.»

Der Klimawandel geht vergessen

Bevor wir zum letzten und grössten Problem kommen, ein Zwischenfazit: Es ist alles andere als sicher, ob es im Tessin grosse, abbaubare Gasmengen gibt. Zudem ist fragwürdig, ob Unternehmen die Genehmigung zum Abbau erhalten würden. Falls doch, würde es etwa zehn Jahre dauern, bis das erste Gas gefördert werden würde. Ob das rentabel wäre, bleibt ebenso ungeklärt, da niemand die Preisentwicklung der nächsten zehn Jahre voraussagen kann. Allein der Bau von Lagerstätten würde jedoch Milliarden kosten.

Damit zur letzten Problematik: der Umwelt. Bei den Gasvorkommen der Schweiz soll es sich hauptsächlich um unkonventionelles Gas wie Schiefergas, Tightgas und Kohleflözgas handeln. Sie alle haben gemein, dass es nur «unter grossem Aufwand mit Technologien wie der hydraulischen Frakturierung, dem Fracking, gefördert werden kann», sagt Fabien Lüthi vom Bundesamt für Energie.

Beim Fracking wird das Lagergestein aufgebrochen und mithilfe von Chemikalien gelöst. In der Westschweiz wurden Gasförderprojekte verboten, weil man die Verschmutzung des Trinkwassers und Erdbeben befürchtete. «Grundsätzlich geht von jeder Bohrung, unabhängig von der dabei angewandten Technik, ein Risiko für die Umwelt und dabei primär für das Grundwasser aus», sagt Lüthi.

Dies sieht Pietro Oesch anders. Der Unternehmer behauptet, dass weder Fracking noch Chemikalien nötig wären. «Wir wollen und können sauber arbeiten», sagte er den Tamedia-Zeitungen.

Ungeachtet der Abbaumethode stellt Erdgas ein Umweltproblem dar. «Wir haben ja nicht nur die Ukraine- und Energiekrise, sondern auch eine Klimakrise», sagt Grünen-Nationalrat Bastien Girod. «Anstatt Gas in der Schweiz zu fördern, sollte man sich auf den Ausbau der Solarenergie fokussieren. So könnte mithilfe von Power-to-Gas auch erneuerbares Gas hergestellt werden.»

Selbst Michael Schmid vom VSG hält nicht viel von der helvetischen Gasförderung: «Für den VSG steht die Erdgasproduktion in der Schweiz nicht im Vordergrund. Im Hinblick auf unsere Energiepolitik, wonach wir bis 2050 Netto-Null erreichen müssen, ist die Richtung klar: Gas muss klimaneutral werden.»

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79 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Cpt. Jeppesen
07.07.2022 11:57registriert Juni 2018
Als verantwortungsvoller Politiker würde ich davon ausgehen, dass Putin den Gashahn zudreht. Anstelle für 8 Milliarden Kavernen in den Fels zu schlagen würde ich für 7 Milliarden Windräder aufs Jura stellen und für eine weitere Milliarde Batteriehäuser im Land verteilen, um den Strom zwischenspeichern zu können. Dazu ein Programm, welches allen erlaubt Photovoltaik zu installieren und den Überschuss zu marktüblichen Preisen in das Netzt einzuspeisen. Swissgrid & Co sollten verpflichtet werden ab sofort das Netz so zu gestalten, dass es mit dezentraler Einspeisung klar kommt.
Zeit zu handeln!
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Rethinking
07.07.2022 11:39registriert Oktober 2018
Eine äusserst rückständige Idee…

Pusht endlich die Photovoltaik richtig! Solange nicht auf jedem Haus, jeder Halle, jedem Parkplatz, an jeder Schallschutzwand keine Solarzellen sind, müssen wir nicht über Die Erschliessung von Fossilen Energieträgern diskutieren…
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Inflatio
07.07.2022 13:16registriert Februar 2020
Mit der warmen Luft von Imark könnte man die ganze Schweiz mit Energie versorgen.
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