Wladimir Putins völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine lässt Gewissheiten erodieren und Tabus bröckeln. Selbst langjährige und überzeugte Pazifisten finden es richtig, die Ukraine mit Waffen zu versorgen. Die Schweiz jedoch will davon nichts wissen. Der Bund hat sogar die Ausfuhr von wirkungsvollen Schutzwesten untersagt.
Nun ist zu diesem Thema eine Kontroverse entbrannt. Anlass war ein Auftritt der deutschen Grünen-Politikerin Marieluise Beck in der ZDF-Talkshow «Markus Lanz». Die Schweiz sei nicht bereit, Munition für den deutschen Schützenpanzer vom Typ «Marder» an die Ukraine zu verkaufen, behauptete Beck. Für sie ist klar, dass die Schweizer «mitliefern müssen».
BV Art.184, Abs.3 gibt BR Kompetenz die Interessen der 🇨🇭aussenpolitisch zu wahren. Der BR kann - wenn er will - 🇩🇪Export von CH Waffenbestandteilen in die 🇺🇦 ermöglichen. Anpassung des zu Recht verschärften Kriegsmaterialgesetzes braucht es dafür nicht.
— Gerhard Pfister 💙💛 (@gerhardpfister) April 25, 2022
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) bestätigte der «Sonntagszeitung», es seien «zwei Anfragen von Deutschland zur Weitergabe von zuvor aus der Schweiz erhaltener Munition an die Ukraine eingegangen». Sie wurden abgelehnt. Worauf Mitte-Präsident Gerhard Pfister den Bundesrat auf Twitter aufforderte, die Munitionslieferung via Notrecht zu erlauben.
Der Zuger Nationalrat erhielt dafür Applaus, aber auch Kritik, denn faktisch hatte Pfister in ein Wespennest gestochen. Nicht ganz klar ist, woher die Anfrage stammt. Sie komme von der Industrie, sagte ein deutscher Regierungssprecher gegenüber SRF. Laut dem Seco stammt sie von einer Behörde. Es soll sich nicht um «Marder»-, sondern laut Tamedia um Fliegerabwehr-Munition handeln.
Die Grundsatzfrage aber stellt sich: Darf die Schweiz Waffen oder andere militärisch verwendbare Güter an die Ukraine liefern? Moralisch werden viele mit einem lautstarken Ja antworten. Juristisch aber gibt es zwei kaum überwindbare Hürden:
Erst letztes Jahr hat das Parlament das Kriegsmaterialgesetz verschärft. Die Änderung tritt am 1. Mai in Kraft. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: 2018 hatte der Bundesrat nach intensivem Lobbying der Rüstungsindustrie die Exportvorschriften gelockert. Unter gewissen Bedingungen sollten Waffen auch an Bürgerkriegsländer geliefert werden können.
Der Shistorm war dermassen heftig, dass der Bundesrat seinen Entscheid zurücknehmen musste. Einer breiten Allianz aus Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die bis weit ins bürgerliche Lager reichte, genügte dies nicht. Sie lancierte eine «Korrektur-Initiative», um Schweizer Waffenexporte in Bürgerkriegsländer ein für allemal zu verbieten.
Bundesrat und Parlament beschlossen als indirekten Gegenvorschlag eine Verschärfung des Kriegsmaterialgesetzes. Die bisherigen Exportvorschriften wurden aus der Verordnung in das Gesetz überführt. Die Ausnahmeregelung für Ausfuhren in Länder, die Menschenrechte systematisch und schwerwiegend verletzen, wurde gestrichen.
Eine vom Bundesrat beantragte «Abweichungskompetenz» bei ausserordentlichen Umständen wurde in der letztjährigen Herbstsession abgelehnt, auch mit Hilfe von Gerhard Pfisters Mitte-Partei. Worauf die Korrektur-Initiative zurückgezogen wurde. Nun aber fordert Pfister, dass der Bundesrat das Gesetz durch die Anwendung von Notrecht «übersteuert».
Juristen bezweifeln jedoch gemäss der NZZ, dass die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Die Schweiz müsse selber unmittelbar bedroht sein, damit sich der Bundesrat über das geltende Recht hinwegsetzen dürfte. Hinzu komme eine weitere Hürde: Mit den Waffenlieferungen stünden «neuralgische Aspekte der Neutralität» zur Debatte.
Der Ukraine-Krieg hat eine Diskussion über die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz und eine mögliche Annäherung an die Nato ausgelöst. Für «Hardliner» vor allem aus der SVP-Ecke ist bereits die Übernahme der EU-Sanktionen durch den Bundesrat ein gravierender Neutralitätsbruch. Rechtsexperten sehen es differenzierter.
Sie unterschieden zwischen Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht. Bei Ersterer gebe es einen relativ grossen Spielraum, der die Anwendung der Sanktionen ermöglicht. Das Neutralitätsrecht, basierend auf dem Haager Abkommen von 1907, ist hingegen strikt. Es verbietet neutralen «Mächten», kriegführende Staaten mit Waffen zu beliefern.
«Das mag man im Ukraine-Krieg richtig oder falsch finden. Aber es ist verbindliches Völkerrecht. Punkt», so die Tamedia-Zeitungen. Der Genfer Völkerrechtler Marco Sassòli präzisierte im Interview mit der NZZ, weil kein Mandat des Uno-Sicherheitsrats bestehe, würde die Schweiz mit der Weitergabe von Munition an die Ukraine «das Neutralitätsrecht verletzen».
Das ebenfalls neutrale Schweden allerdings hat diese Bedenken über Bord geworfen und als eines der ersten europäischen Länder Panzerabwehr-Waffen in die Ukraine geschickt. Gemeinsam mit Nachbar Finnland strebt Schweden zudem den Nato-Beitritt an. Für Sassòli ist ein solcher Schritt allein noch keine Verletzung des Neutralitätsrechts.
Faktisch aber geben Finnland und Schweden wegen der Bündnispflicht damit wohl ihre Neutralität auf. Weshalb ein Nato-Beitritt für die Schweiz weiterhin kein Thema ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie nicht «indirekte» Waffenlieferungen wie im konkreten Fall durch Deutschland ermöglichen soll. Heute ist dafür eine Zustimmung aus Bern notwendig.
GLP-Präsident Jürg Grossen regte in der SRF-«Tagesschau» eine Gesetzesänderung an, die vom Nationalrat schon in der Sondersession von übernächster Woche beschlossen werden könne. Eine Mehrheit dafür ist jedoch nicht in Sicht, wegen der Opposition von links gegen Kriegsmaterialexporte und wegen der Neutralitätsvorbehalte auf bürgerlicher Seite.
Schweizer Munition für die Ukraine wird es kaum geben, zumindest nicht auf legalem Weg. Dennoch könnte die Kontroverse einen weiteren Anstoss zu einer Grundsatzdebatte über die Neutralität im 21. Jahrhundert liefern: Kann die Schweiz neutral bleiben in einer Welt, die in einen freiheitlichen und einen autoritären Block zerfällt?
«Diese Spaltung, die durch den Ukraine-Krieg massiv beschleunigt wird, könnte die Schweiz schon bald zum Stellungsbezug nötigen», mutmasst der Tamedia-Kommentar. Der Druck könnte anders ausfallen als durch den Fernsehauftritt einer deutschen Politikerin.
Meiner Meinung nach sollte man hier doch einen Unterschied zwischen Selbstverteidigung und Angriffskrieg machen.
Bei der Spalte K3 handelt es sich in der Tabelle um schwere Munition und K5 um Feuerleitsysteme.
Sonst schüttet man nur Wasser auf die Mühlen derer, die der Meinung sind, dass der Bundesrat diktatorisch regiert. Und es geht in die Richtung von Donald Trump, der den Notstand ausruft, damit er seine Mauer bauen kann.
Der Vergleich mit der Schweiz passt deshalb nicht mehr.