Schweiz
Angriff auf Paris

Experte warnt: Schweizer Anti-Terrormassnahmen greifen zu kurz

Experte warnt: Schweizer Anti-Terrormassnahmen greifen zu kurz

19.11.2015, 08:0619.11.2015, 08:16
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Die Schweizer Anti-Terrormassnahmen wie die geplanten Ausreiseverbote für mutmassliche Dschihad-Reisende greifen zu kurz. «Sie können helfen, akute Gefährdungslagen zu bewältigen, aber den Einstieg in eine Terroristen-Karriere wird man so nicht verhindern», sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze.

Noch vor den Attentaten in Paris hatte die Task-Force TETRA unter anderem vorgeschlagen, künftig auch Ausreiseverbote gegen Personen zu verhängen, gegen die kein Strafverfahren wegen dschihadistischer Vergehen läuft. Zudem hat der Bund Einreiseverbote gegen sogenannte Hassprediger und ausländische Dschihadisten verhängt.

Der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Schulze von der Uni Bern.
Der Islamwissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Schulze von der Uni Bern.
bila via srf

Solche polizeilichen Massnahmen allein reichen aus Schulzes Sicht nicht aus. Gefährdete Menschen müssten «viel früher abgeholt» werden, sagt der Professor, der an der Universität Bern lehrt.

Hierzulande keine Banlieues

Die Schweiz habe aber bei der Integration der Muslime eine andere Situation als zum Beispiel Frankreich oder Belgien, sagte Schulze im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA. «In der Schweiz hat es relativ wenige soziale Räume, in denen sich dschihadistische Nester bilden können.»

Sozial schwach: Der Pariser Vorort Montfermeil.
Sozial schwach: Der Pariser Vorort Montfermeil.
Bild: Elaine Ganley/AP/KEYSTONE

In Frankreich oder Belgien dagegen hätte man bereits vor fünf Jahren beginnen müssen mit der Prävention, zeigte sich Schulze überzeugt. Er verwies dabei auf die Biografien der Attentäter von Paris. In den Banlieues von Paris, Brüssel oder von Städten wie Toulouse könnten sich in gewissen Milieus kleine Gemeinschaften bilden, die sich plötzlich aus der Gesellschaft verabschiedeten. «Im Augenblick sind es nur einzelne dschihadistische Biografien und keine kollektiven Milieus wie in Nordafrika».

IS zielt auf die Armen

Am Beispiel Tunesiens hatte die «International Crisis Group» aufgezeigt, wie IS-Rekrutierer nach dem Sturz des Regimes Ben Alis 2011 das Machtvakuum ausnutzten. Sie sickerten in die ärmsten Regionen ein und verschafften sich als Helfer und Ordnungsmacht Respekt.

Im Fadenkreuz: Synagoge in Tunesien.
Im Fadenkreuz: Synagoge in Tunesien.
Bild: KEYSTONE

Als Ordnungshüter rekrutierte der IS oftmals Kleinstkriminelle, denen damit ein sozialer Aufstieg gelang. Ihren neuen Chefs dankten sie dies mit absoluter Loyalität. In den Reihen des IS kämpfen zahlreiche Tunesier. Die Lage in Nordafrikas Armenvierteln lässt sich kaum auf die Banlieues von Paris oder Brüssel übertragen. Doch, der IS könne sich dort durchaus «einpflanzen», sagt Schulze dazu.

Islamischer Staat (IS)
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Grundrechte keine Beute für IS

Gemäss Schulze ergeben sich aus der Bedrohung durch dschihadistische Attentäter in Europa zwangsläufig neue polizeiliche Massnahmen, die über die bisherigen hinausgehen. Er warnt aber davor, die Grundrechte einzuschränken. «Es wäre ein Triumph für den IS, wenn Europa als Reaktion auf dessen Terror die Grundrechte einschränkt.»

Auch der Direktor der Menschenrechtsorganisation TRIAL, Philip Grant, warnte davor, die Grundrechte aufzuweichen. Er wünsche sich, dass Europa und Europas Institutionen nun zusammenstünden und mit mehr Menschenrechten, mehr Demokratie und mehr Freiheit antworteten. So habe Norwegen 2011 auf die Anschläge des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik mit 78 Toten geantwortet.

Aus dem selben Holz wie die Islamisten: Anders Breivik.
Aus dem selben Holz wie die Islamisten: Anders Breivik.
Bild: EPA

Kein Verbrechen ohne Strafe

Es sei ihm klar, dass eine solche Antwort nicht kurzfristig von Erfolg gekrönt sei, sondern über Generationen hinweg verfolgt werden müsse, sagte Grant gegenüber der SDA. Doch Europa habe dies bereits nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen.

Ein wichtiger Baustein bei der Bewältigung waren dabei die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Der Beginn des Prozesses gegen die Hauptverbrecher jährt sich am 20. November zum 70. Mal. Die Prozesse legten den Grundstein für die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und damit für den Internationalen Strafgerichtshof.

TRIAL hat sich dem Kampf gegen die Straflosigkeit verschrieben. Angesprochen auf die Gewaltvideos des IS, sagte Grant, es wäre ihm lieber, die Leute würden sich eines Tages an ein Bild erinnern, das solche Menschen vor einem Gericht stehend zeigt. Diese Täter inszenierten sich im Internet als Richter und Henker zugleich.

Im Todesrausch

Schulze sagte, jenen, die zum IS reisten, gehe es nicht darum, ob sie bestraft würden. Es sei klar, dass dies ihren Tod bedeuten könne. «Gerade die Todesnähe ist attraktiv.»

Todeswürdig oder versklavenswürdig sind aus Sicht der islamistischen Sekte wiederum alle, die nicht so denken wie sie selbst, auch Muslime. «Der IS hat den Islam umstrukturiert, aber nur in seiner eigenen Vorstellungswelt. Dies hat nichts mit dem Rest der Muslime zu tun,» sagte Schulze. Innerhalb des Herrschaftsgebietes des IS diene diese Vorstellungswelt der reinen Normenkontrolle, der Willkür und dem Machterhalt.

(sda)

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