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1.-Mai-Demonstrationen: So brutal waren sie wirklich

Polizisten sicher den Bereich an der Nachdemonstration vom 1. Mai-Umzug, am Tag der Arbeit im Zeichen der "feministischen Revolution" in Zuerich, aufgenommen am Montag, 1. Mai 2023. (KEYSTON ...
Die Kantonspolizei Zürich kesselte das Kanzleiareal ein. Darunter auch Menschen, die nicht an der Demo waren. Bild: keystone

Wie es ist, als unbeteiligte Person an der 1.-Mai-Demo eingekesselt zu sein

Am 1. Mai kam es in Zürich und in Basel zu Ausschreitungen zwischen Demonstrierenden und Polizisten. Doch auch unbeteiligte Menschen waren betroffen. Sie erzählen watson, wie brutal der 1. Mai wirklich war.
02.05.2023, 16:4403.05.2023, 13:50
Lea Oetiker
Lea Oetiker
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Feste, Musik, Demonstrationen und Randale: Gestern war der 1. Mai – auch Tag der Arbeit genannt. Tausende Menschen demonstrierten für mehr Lohn, bessere Renten und mehr Gleichstellung. Bei den rund 50 Veranstaltungen in der ganzen Schweiz rief neben den Gewerkschafts- und SP-Spitzen auch Bundespräsident Alain Berset zum Kampf gegen Ungleichheit und für sozialen Fortschritt auf.

Am Rande kam es aber auch zu Ausschreitungen und Sachbeschädigungen. watson war in Zürich und Basel vor Ort:

Demonstrierende flüchten aufs Kanzlei-Areal

In Zürich gingen am 1. Mai mehrere tausend Personen unter dem Motto «Frauenarbeit ist mehr wert» auf die Strasse. Der offizielle 1.-Mai-Umzug mit der Schlusskundgebung auf dem Sechseläutenplatz verlief laut der Kantonspolizei Zürich ohne grössere Zwischenfälle.

Kundgebungsteilnehmer laufen am traditionellen 1. Mai-Umzug, am Tag der Arbeit im Zeichen der "feministischen Revolution" in Zuerich, aufgenommen am Montag, 1. Mai 2023. (KEYSTONE/Ennio Lean ...
Kundgebungsteilnehmer an einer friedlichen Demonstration in Zürich.Bild: keystone

Am Nachmittag kam es im Kreis 4 aber zu mehreren unbewilligten Demonstrationen. Die Polizei war mit einem Grossaufgebot vor Ort.

Nur wenige Sekunden nachdem sich der Schwarze Block mit rund 100 Aktivistinnen und Aktivisten kurz nach 15 Uhr von der Langstrasse kommend in Richtung Stauffacherstrasse in Bewegung gesetzt hatte, stoppte die Polizei die Demonstration.

Daraufhin versuchten Demonstrierende, von der Polizei wegzulaufen, und sprangen über den Zaun des Kanzleiareals. Dort befanden sich auch mehrere Personen, die nicht an der Demonstration dabei waren, da auf dem Areal ein Fest zum 1. Mai noch voll im Gang war.

Linksautonome streiten mit der Polizei an der Nachdemonstration vom 1. Mai-Umzug, am Tag der Arbeit im Zeichen der "feministischen Revolution" in Zuerich, aufgenommen am Montag, 1. Mai 2023. ...
Die Demonstration verlegte sich auf das Kanzleiareal.Bild: keystone

Nicht beteiligte wurden eingekesselt und nicht mehr herausgelassen

Die Polizei umstellte das Areal. Innerhalb weniger Minuten waren Nicht-Demonstrierende und Demonstrierende eingekesselt.

Wasserwerfer, Tränengas, Pfefferspray und Gummischrot – die Polizei hatte alles dabei. Und sie setzte auch alles ein.

Immer wieder versuchten Nicht-Demonstrierende, aus dem Kessel zu gelangen, wurden aber daran gehindert. Eine Betroffene berichtet gegenüber watson, dass sie von der Polizei weggewiesen worden sei und das Areal nicht verlassen durfte. Auch der Boccia-Club, der sich auf dem Areal mitten in einem Spiel befand, kam nicht mehr raus. Ein Paar mit einem Baby schaffte es erst nach Diskussionen mit der Polizei aus dem Kessel.

Linksautonome streiten mit der Polizei an der Nachdemonstration vom 1. Mai-Umzug, am Tag der Arbeit im Zeichen der "feministischen Revolution" in Zuerich, aufgenommen am Montag, 1. Mai 2023. ...
Rund 40 Minuten nach der Einkesselung kündigte die Kantonspolizei in mehreren Durchsagen an, dass sie mit Personenkontrollen beginnen werde.Bild: keystone

Rund 40 Minuten nach der Einkesselung kündigte die Kantonspolizei in mehreren Durchsagen an, dass sie mit Personenkontrollen beginnen werde. Sie öffneten einen Ausgang bei der Kanzleistrasse, wo sich Freiwillige kontrollieren lassen und somit dem Kessel entkommen konnten.

Doch für die Nicht-Demonstrierenden war die Situation schwer einzuordnen, wie die Betroffene weiter erzählt. Die Durchsagen der Polizei waren wegen des Lärms nicht zu hören. Nur ein «Nuscheln» hätte man mitbekommen. Die junge Frau versteckte sich hinter einem Container. Gummischrot traf sie in den Rücken, Atemwege und Augen wurden von Reizgas strapaziert.

Polizisten sichern den Bereich um die Kanzlei an der Nachdemonstration vom 1. Mai-Umzug, am Tag der Arbeit im Zeichen der "feministischen Revolution" in Zuerich, aufgenommen am Montag, 1. Ma ...
Polizisten sichern den Bereich um die Kanzlei an der Nachdemonstration vom 1.-Mai-Umzug.Bild: KEYSTONE

Arealverbot bis 5 Uhr morgens

Gegen 18 Uhr schaffte sie es durch die Personenkontrolle der Polizei. Sie habe nun Arealverbot im Kreis 1, 4 und 5, teilte ihr die Polizei mit. Bis am nächsten Tag um 5 Uhr morgens dürfe sie sich nicht in diesen Stadtteilen aufhalten – obwohl sie im Kreis 4 wohnt.

Auf Anfrage von watson, was nun mit den Personalien geschehe, antwortet die Medienstelle der Kantonspolizei Zürich: «Bei Personen, die mit Massnahmen belegt wurden (z.B. Wegweisung und/oder Verzeigung) werden die Personalien im Rapportsystem Polis erfasst. Diese werden gemäss den vorgegebenen Löschfristen in der Polis-Verordnung wieder gelöscht. Die Löschung kann auch verlangt werden.»

Weiter sagt die Medienstelle: «Da die Polizei ohne Kontrolle nicht beurteilen konnte, wer mit der zuvor versuchten unbewilligten Demo im Zusammenhang stand, mussten die Personen einzeln kontrolliert werden. Diese Kontrollen benötigen Zeit. Personen bei denen kein Verdacht bestand, dass sie mit der versuchten unbewilligten Demo etwas zu tun hatten, wurden ohne Massnahmen vor Ort entlassen.»

Ein anderer Augenzeuge berichtet gegenüber watson, dass die Polizei ihn angewiesen habe, die Stadt Zürich sofort zu verlassen und nach Hause (Kanton Aargau) zu gehen.

Gegen 19 Uhr drang die Polizei in das Kanzleiareal ein und beendete die Demonstration. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen, welche nicht an der Demonstration teilnahmen, das Gelände verlassen.

Laut der Polizei wurden zwei Personen bei dieser Aktion verletzt. Eine davon zog sich eine schwere Gesichtsverletzung zu. Augenzeugen berichten gegenüber watson, dass mehr Personen verletzt worden seien.

19 Personen wurden allein auf dem Kanzleiareal verhaftet. Darunter sieben Frauen und zwölf Männer. Die jüngste verhaftete Person ist 16 Jahre alt. 400 Personen wurden weggewiesen.

Auch in Basel wurde der Umzug eingekesselt

Auch in Basel wurde der 1. Mai gross gefeiert. Unter dem Motto «Mehr Lohn, mehr Rente, Gleichstellung jetzt!» versammelten sich rund 1000 Personen und nahmen an der bewilligten Demonstration zum Tag der Arbeit teil.

Doch bereits kurz nach dem Start kesselte die Polizei den vorderen Teil des Umzugs ein und führte Personenkontrollen durch. Grund: «Wegen vermummten und mit Schutzmaterial ausgerüsteten Gruppierungen an der Spitze», wie die Kantonspolizei Basel gegenüber watson mitteilte. Daraufhin führte die Polizei auch hier Personenkontrollen durch.

Auch in Basel setzte die Polizei Reizgase und Gummischrot ein. Eine Person, die Reizstoff abbekommen hat, ist die Grossrätin Tonja Zürcher.

Mediensprecher der Kantonspolizei Basel, Adrian Plachesi, könne im Einzelfall nicht erklären, weshalb die Polizei bei einer bewilligten Demo ohne Ausschreitungen Gummischrot und Pfefferspray einsetze, wie er auf Anfrage sagt. Aber der Sprecher rechtfertigt das Vorgehen:

«Die Polizei hat immer die Möglichkeit, nach Abmahnung solche Zwangsmittel einzusetzen.»
Mit einem grossen Polizeiaufgebot wird der Umuzg bei einer Kundgebung zum Tag der Arbeit gestoppt in Basel, am Montag, 1. Mai 2023. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
Grosses Polizeiaufgebot auf den Strassen von Basel.Bild: keystone

Auch Kinder von Polizeieinsatz betroffen

Laut eines Blick-Reporters vor Ort sollen auch Kinder eingekesselt worden sein und Reizgas abbekommen haben. Der Mediensprecher von der Kantonspolizei Basel konnte watson vor Ort keine genauen Informationen darüber geben. Auch am nächsten Tag schweigt sich die Basler Polizei aus. Laut der Medienstelle haben sie «nicht nachgezählt, ob auch Kinder betroffen waren». Weiter sagt er, dass keine Kinder verarztet hätten werden müssen und man Rücksicht genommen hätte, wäre bekannt gewesen, dass Kinder vor Ort sind.

Zum Zeitpunkt der Einkesselung haben die Demonstrierenden in Basel friedlich demonstriert. Auch kam es zu diesem Zeitpunkt zu keinen Ausschreitungen, wie die Polizei gegenüber watson bestätigt. Das Ziel sei es gewesen, Personenkontrollen beim vermummten Teil der Demonstration durchzuführen und gefährliche Gegenstände wegzunehmen.

Die Einkesselung dauerte bis am frühen Abend – insgesamt sechs Stunden lang. Danach wurde der Umzug friedlich fortgesetzt.

Am Abend zog die Basler Polizei Bilanz: 317 Personen wurden kontrolliert und 22 Personen vorübergehend in Gewahrsam genommen. Gegen 72 Personen wurde ein Platzverweis ausgesprochen. Drei Personen wurden nach dem Einsatz von Reizstoffen vor Ort durch die Sanität behandelt.

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94 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Peanuts
02.05.2023 16:32registriert Juli 2015
Vielleicht sollte man als Zivilist / Kind am 1. Mai solche Orte ein wenig meiden.
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Alex_Phil
02.05.2023 16:30registriert August 2016
In der Schweiz haben wir Demonstrationsfreiheit. Wer sich vermummt und randaliert sollte von den Polizisten auf den Posten genommen werden.
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Snowy
02.05.2023 16:50registriert April 2016
Sicher unschön, aber was hätte die Polizei denn anders / besser machen sollen als alle auf dem Areal kontrollieren und diejenigen welche unauffällig (keine schwarze Kleidung/ Vermumungsmaterial / Schutzkleidung) eine Wegweisung aussprechen?!
Die Krawallmenschen sind äussert phantasievoll um Kontrollen zu umgehen und entsprechend vorbereitet: Zum Bsp mit „zivilen“ Wechselkleidern im Rucksack.

Scheint mir die in casu die einzige praktikable Lösung.
Und wer am 1. Mai mit Kleinkind aufs Kanzleiareal (alljährlicher Hotspot von Krawallen), der hat definitiv schon mal sehr viel falsch gemacht.
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watson war gestern am SRF Bounce Cypher vor Ort in Oerlikon. Logisch, dass nicht jeder so gut Bescheid weiss wie Menschen, die im Journalismus arbeiten, aber trotzdem: Wir wollten von den Künstlerinnen und Künstlern wissen, wie gut sie informiert sind darüber, was in der Welt gerade so abgeht. Weisst du, wer zurzeit in den USA um das Amt des Präsidenten kämpft? Oder wie unser Schweizer ESC-Song heisst?

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