Schweiz
Arbeitswelt

Ein Tatortreiniger erzählt: Er kommt, wenn die Polizei gegangen ist

Tatortreiniger Brighina
Tatortreiniger Francesco Brighina in voller Montur.Bild: tatortreinigung-schweiz.ch

Er kommt, wenn die Polizei gegangen ist

Ein Mann für alle Fälle: Francesco Brighina erzählt im Interview von seinem Alltag in Räumen, bei welchen es Normalsterblichen den Appetit verschlägt. Doch der Beruf hat auch seine schönen Seiten.
19.01.2025, 12:2707.02.2025, 14:39
Kendra Kotas
Kendra Kotas
Mehr «Schweiz»

«Hier sieht man den Umriss der Leiche», erklärt Francesco Brighina. Er sitzt gerade auf seinem Stuhl, spricht ruhig und kontrolliert. Schlank, mit sorgfältig zurück gegelten Haaren und Tattoos, die unter seiner Kleidung hervorblitzen. Er zeigt mir auf seinem Handy Fotos von Zimmern, voll mit Blut, Müll und den Abdrücken von Leichen, die dort tagelang gelegen haben. Anders als mit Gelassenheit wäre sein Beruf vermutlich auch nicht zu erfüllen. Er arbeitet in Räumen, in welche andere wohl nicht einmal einen Fuss hineinsetzen würden. Doch heute empfängt er mich in seinem Büro.

Der Italiener hat einen ungewöhnlichen Beruf: Er ist Tatortreiniger. Doch das nicht von Anfang an. 1988 gründet er die Firma Brighina Reinigung, welche Reinigungsdienstleistungen im Bereich der Gebäudereinigung anbietet. Die Tatortreinigung hat sich so ergeben. Anders als andere Reinigungsfirmen, nimmt er auch Anfragen zur Tatortreinigung an, das spricht sich herum. Heute ist er einer der wenigen Tatortreiniger in der Schweiz.

Zu seiner Spezialisierung gehören Messiewohnungen (abgeleitet von englisch Mess, «Chaos»). Das sind stark vernachlässigte Wohnungen von Leuten, welche durch verschiedene Schicksalsschläge oder Krankheiten nicht mehr in der Lage sind, für sich zu sorgen.

Das richtige Vorgehen

Als Kind will Francesco Brighina etwas ganz anderes werden. Ob Polizist, über Pilot oder Soldat, «Hauptsache etwas mit Uniform», meint er. Doch er übt seinen heutigen Beruf gerne aus. Der Auftrag fängt beim Anruf an. Dieser kommt meistens von der Polizei, der Verwaltung, Gefängnissen oder Privaten. Je nachdem, um was für eine Art Reinigung es sich handelt. Bei einem Tatort aufgrund Suizids, Unfalls oder eines Verbrechens muss der Tatort von der Polizei freigegeben werden.

«Es haben aber auch schon Angehörige im Schockzustand angerufen, bevor die Polizei da war. Diesen Leuten muss ich dann den richtigen Ablauf erklären», meint Francesco Brighina. Beim Anruf erfährt er alle wichtigen Informationen, um das weitere Vorgehen planen zu können. «Dabei habe ich eine innere Ruhe», erklärt er. Er stellt Fragen zum Zustand des Gebäudes, zum Boden oder zur Art des Todes. Je nachdem, ob der Tatort in einem alten oder neuen Haus, Ein- oder Mehrfamilienhaus, im Badezimmer, in der Küche oder auf einem Teppich oder Parkett passiert, braucht es verschiedene Vorgehensweisen.

Boden Tatortreinigung
Je nach Art des Bodens braucht es verschiedene Vorgehensweisen. Bild: brighina_tatortreinigung/Instagram

Wenn ein Tatort noch nicht freigegeben ist und Geruch ins Treppenhaus strömt, muss zuerst die Eingangstür der Wohnung versiegelt werden. Wenn der Tatort freigegeben ist, geht das vierköpfige Team in den Raum und verschafft sich einen Überblick. Danach verlässt es den Raum wieder und bespricht, wie es vorgeht.

«Man kann vieles falsch machen», meint Brighina. «Der Beruf ist nicht zu unterschätzen, viele wollen es probieren. Aber Erfahrung ist wichtig.» Mit jedem Tatort kommen neue Erkenntnisse. Muss der Boden gespitzt werden? Muss man den Teppich herausschneiden oder herausreissen? Mit 30 Jahren Erfahrung ist Brighina ein Profi. Für den Beruf sollte man ein Allrounder sein. Handwerker und Reiniger in einem. Auch klar denken soll man können.

«Der Beruf ist nicht zu unterschätzen, viele wollen es probieren. Aber Erfahrung ist wichtig.»
Francesco Brighina

Bei der Reinigung trägt Brighina zum Schutz neben seinem Ganzkörperanzug und einer Maske vier Handschuhe übereinander. Die Desinfektion ist einer der wichtigsten Arbeitsschritte. Krank wurde er zum Glück noch nie. Doch einmal schneidet er sich in den Finger und Leichenwasser kommt an die Wunde. «Da hatte ich wirklich Angst», meint er.

Helm Brighina
So eine Maske trägt Francesco Brighina bei seinen Einsätzen.Bild: tatortreinigung-schweiz.ch

Bei der Reinigung findet Brighina immer wieder Geld. Der höchste Betrag beläuft sich auf 29'500 Franken. Doch Finderlohn gibt es keinen. Das erwartet er aber auch nicht.

Wenn die Leute sein Auto irgendwo sehen, auf dem Tatortreinigung steht, erwarten sie gleich das Schlimmste. Auch wenn er in voller Montur gekleidet ist, schüchtert das die Leute ein. Eine Zeit lang hat Brighina einen TikTok-Kanal, wodurch er Videos seiner Arbeit zeigt. Doch den Kanal hat er gelöscht. Er fühlt sich nicht wohl dabei, wenn die Leute die Bilder sehen. Bei Instagram überlegt er noch, den Account zu löschen.

Eine Reinigung kann von einem Tag bis zu einer Woche dauern. Im Monat können es vier bis fünf Tatorte sein, manchmal aber auch weniger. Am meisten passiert im Sommer. Da ist der Job wegen der Wärme am anspruchsvollsten. Der Gestank nimmt zu, es gibt Maden und Fliegen. Neben der Hitze ist das Schlimmste an der Arbeit die Reinigung in Messiewohnungen. Meistens gehören diese Männern.

Messiwohnung
Eine Messie-Wohnung.Bild: brighina_tatortreinigung

Brighina beschreibt einen Vorfall. Eine Familie entsorgt ihren Abfall mehrere Jahre in einem Zimmer in deren Wohnung. In diesem Zimmer erleichtern sie sich auch. Das Zimmer ist voller Ratten und Maden. Das Ganze kommt heraus, als sich Mitschüler der Kinder der Familie über deren Gestank beschweren. Brighina schaut betroffen. «Wenn Kinder im Spiel sind, ist es besonders traurig.»

Ihm fällt ein Fall ein, als er nach der Reinigung eines Tatorts eines Familienvaters die Angehörigen antrifft. Dieser hatte sich das Leben genommen. Die Kinder waren völlig verstört. «Ein Kind schlug seinen Kopf an die Wand», schildert er. Als Vater nimmt ihn sowas noch mehr mit. Seine grösste Angst ist es, einen Tatort reinigen zu müssen, wo ein Kind gestorben ist. Dies ist bis heute aber zum Glück noch nicht passiert.

Die schönen Seiten des Berufs

Bei all diesen Szenen könnte man meinen, dass einem dabei der Appetit vergehen müsste. Doch dem ist nicht so. Brighina selbst ist Veganer. Da er keine Saucen, Fleisch oder Fisch isst, hat er auch kein Problem, nach seinen Einsätzen zu essen. Auch Krimis kann er noch ohne Probleme schauen. Beim Thema Fernsehen kommen wir auf die deutsche Serie «Der Tatortreiniger» zu sprechen. Er kennt die Serie und findet sie lustig. Bjarne Mädel, welcher den Tatortreiniger verkörpert, ist «ein Top-Schauspieler» findet Brighina.

Die schöne Seite seines Berufes ist aber die Dankbarkeit der Angehörigen. «Ich beruhige die Situation ein wenig», erklärt er.

«Ich beruhige die Situation ein wenig»
Francesco Brighina

Auch ein grosser Vorher-nachher-Effekt bei einer Reinigung macht ihn froh. Wenn man nicht mehr sieht, dass etwas passiert ist.

Bei einigen Fällen muss er aber schon länger daran denken. «Man nimmt die Arbeit ein Stück mit nach Hause», meint er. «Bei einem Suizid fragt man sich auch, was war der Grund?» Bei Messiwohnungen ist es besonders traurig, wie die Leute so geworden sind. Bei einigen kommt mit Alkohol oder dem Verlust der Freundin alles zusammen. Die Zeit heilt aber alle Wunden und es kommen wieder neue Fälle. «Man stumpft auch ein bisschen ab», meint der Italiener.

Saxophon Brighina
Brighinas Saxofon, eine Selmer Mark 6.Bild: watson

Von seiner Arbeit abschalten kann er mit seinem Saxofon. Wenn er spielt, vergisst er alles um sich herum. Am liebsten spielt er Jazz oder Blues. Stolz erzählt er von seinem Instrument, einer Selmer Mark 6. Die kann schon einmal 19’000-20’000 Franken kosten. Brighinas Mitarbeiterin ruft vom Schreibtisch aus, er soll etwas vorspielen. Sie lachen. Er wehrt den Vorschlag mit einer abwinkenden Geste ab.

Die beiden haben ein freundschaftliches und vertrauensvolles Verhältnis. «Es ist ein Geben und ein Nehmen», meint sie. «Er hat immer ein offenes Ohr. Und er ist sehr tierliebend», fährt sie fort. Daraufhin erzählt Brighina, er habe einen Hund. Den Weimaraner Leo. Ausserdem kaufe er immer einen 25-Kilo-Sack Futter für die Enten und Schwäne. Er zeigt mir ein Video, wie er sie füttert, aufgenommen mit demselben Handy, mit dem er mir vor kurzer Zeit Bilder von blutverschmierten Zimmern gezeigt hat.

Lass dir helfen!
Du glaubst, du kannst eine persönliche Krise nicht selbst bewältigen? Das musst du auch nicht. Lass dir helfen.
In der Schweiz gibt es zahlreiche Stellen, die rund um die Uhr für Menschen in suizidalen und depressiven Krisen da sind – vertraulich und kostenlos.

Die Dargebotene Hand: Tel 143, www.143.ch
Beratung + Hilfe 147 für Jugendliche: Tel 147, www.147.ch
Reden kann retten: www.reden-kann-retten.ch
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Menschen mit dem perfekten Namen für ihren Job
1 / 29
Menschen mit dem perfekten Namen für ihren Job
Bild: imgur
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Dieser Tatortreiniger erzählt von seinem schlimmsten Erlebnis
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
19 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Schlumpfinchen
19.01.2025 12:52registriert Januar 2025
Interressanter Artikel 👍
Der Beruf wäre definitiv nichts für mich...
833
Melden
Zum Kommentar
19
    BKW-Chef sieht in der Schweiz grosses Potenzial für Windenergie

    BKW-Chef Robert Itschner spricht sich für mehr hiesige Windkraft aus. «Wir denken, dass dies auch für die Schweiz eine interessante Technologie ist», sagte er im Interview mit der Handelszeitung (Donnerstagsausgabe).

    Zur Story