Plötzlich sagt der Bundesrat: Bomben über der Schweiz sind «eher wahrscheinlich»
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, änderte die Sicherheitslage Europas radikal. Der Sicherheitspolitische Bericht des Bundesrats, das Fundament der Schweizer Verteidigungspolitik, las sich danach wie aus einem anderen Jahrhundert – obwohl er da erst drei Monate alt war. Um dies zu korrigieren, verabschiedete der Bundesrat einige Monate später einen Zusatzbericht, der die Lage neu beurteilte. Die Auslegeordnung ist flankiert von einer Studie des Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich und Einschätzungen des ehemaligen Botschafters Jean-Jacques de Dardel zur sicherheitspolitischen Kooperation in Europa.
Eineinhalb Jahre später ist das Dokument in vielerlei Hinsicht immer noch gültig. Das lässt sich auch daran erkennen, dass ganze Passagen des Zusatzberichtes in der Armeebotschaft 2024 enthalten sind, die der Bundesrat diese Woche vorgestellt hat. In einigen entscheidenden Punkten aber weicht der Bundesrat von den damaligen Einschätzungen ab – mit gravierenden Folgen.
«Kompetitive geopolitische Lage»
Kam die Analyse 2022 noch zum Schluss, ein Angriff aus der Distanz «mit ballistischen Lenkwaffen, Marschflugkörpern oder bewaffneten Drohnen» sei «unwahrscheinlich», sagt die Armeebotschaft jetzt: Ein solches Szenario ist sehr viel realistischer geworden. «Aufgrund der kompetitiven geopolitischen Lage und der zunehmenden technologischen Realisierbarkeit» müsse ein solcher Angriff auf die Schweiz als «eher wahrscheinlich» eingestuft werden.
Als Beispiel, wie schnell ein Staat «ohne Vorwarnung drastische Massnahmen gegenüber der Schweiz ergreifen kann», wird dabei die Libyen-Krise angeführt. Weil die Schweiz damals den Sohn von Machthaber Muammar al-Gaddafi verhaftete, brach zwischen den beiden Staaten eine diplomatische Krise aus.
Die Begriffe «unwahrscheinlich» oder «eher wahrscheinlich» sind nicht etwa semantische Haarspaltereien, sondern orientieren sich an einer Skala des Bundesnachrichtendienstes, wie einleitend in der Botschaft steht. «Unwahrscheinlich» entspricht der dritten, «eher wahrscheinlich» der fünften von acht Eskalationsstufen. Die Skala reicht bis «äusserst wahrscheinlich».
Diese Neubeurteilung hat grossen Einfluss auf die Ausrichtung der Armee. Die «Eintretenswahrscheinlichkeit» der beschriebenen Szenarien dient nämlich als Grundlage dafür, wie sich die Truppen in Zukunft aufstellen sollen – und warum es dafür deutlich mehr Geld braucht. Insbesondere in den Bereichen Führung und Vernetzung sowie beim Nachrichtenverbund und bei den Sensoren, aber auch bei der Wirkung am Boden, in der Luft sowie im Cyberraum und im elektromagnetischen Raum sollen Fähigkeitslücken geschlossen werden.
Die Armeebotschaft 2024 setzt nicht nur den Grundstein für die Entwicklungen der nächsten 12 Jahre. Sie ist auch der Antrag ans Parlament, einen Zahlungsrahmen der Armee für die Jahre 2025-2028 im Umfang von 25,8 Milliarden Franken zu bewilligen.
Begründung fehlt
Das Spezielle daran: Eine eigentliche Begründung für die Neubeurteilung fehlt. Auf Nachfrage heisst es beim zuständigen Verteidigungsdepartement lediglich, die Sicherheitslage verändere sich eben laufend. Der Sicherheitspolitische Bericht sei zwar die Grundlage, aber auch Lageentwicklungen würden berücksichtigt. Offenbar hat sich aber auch im VBS die neue Einschätzung noch nicht ganz festgesetzt, denn im Fortlauf heisst es: Ein direkter Angriff auf die Schweiz sei «kurz- bis mittelfristig weiterhin grundsätzlich unwahrscheinlich». Offiziell gültig ist indes bis auf weiteres die anderslautende Einschätzung in der Armeebotschaft. (aargauerzeitung.ch)