Terrorismus und paramilitärische Bedrohungen innerhalb Europas – das ist das Szenario der Militärübung «LUX 23». An dieser Übung nehmen vom 1. bis zum 9. Mai rund 4000 Miliz- und Berufssoldaten der Territorialdivision 1, die die Westschweiz und den Kanton Bern umfasst, teil.
Dieses grossangelegte Manöver folgt ein Jahr auf die Übung PILUM 22, an der 5000 Soldaten aus der Deutschschweiz teilgenommen hatten. PILUM 22 war die grösste Militärübung in der Schweiz seit dem Ende des Kalten Krieges. Doch es war nicht die einzige – und auch nicht die skurrilste.
Die Mobilmachung wurde laut Verteidigungsministerium vor der russischen Invasion in der Ukraine geplant. Doch es war gar nicht so einfach, sich seit dem Ende des Kalten Krieges ein realistisches Szenario aus den Fingern zu saugen und die Soldaten während einer Militärübung zu beschäftigen.
Während des Kalten Krieges war die Lage eindeutiger: Die neutrale Schweiz bereitete sich auf einen Angriff der Streitkräfte des Warschauer Pakts vor. Julien Grand, stellvertretender Chefredaktor der Schweizerischen Militärzeitschrift, erinnert sich:
Der militärische Führungsstab übte alles nur erdenkliche: «Alles, was ein feindlicher Angriff irgendeiner Form bedeuten konnte, wurde geübt. Bis hin zur Evakuierung der Bevölkerung, die aufgrund ihrer geografischen Lage potenziell starkem Artilleriefeuer ausgesetzt war», fährt Julien Grand fort. «Bundesparlamentarier, die in die Berge gebracht wurden, übernahmen die Rolle des Bundesrats», fügt ein Offizier hinzu, der diese Zeit als junger Mann erlebt hat und sie so beschreibt:
Es war die Zeit der Übungen zur «Gesamtverteidigung». Und mit gesamt, war auch tatsächlich alles gemeint: Bis zu 100'000 Mann wurden mobilisiert – also ein ganzes Armeekorps. Nicht nur viele Soldaten, sondern auch Zivilisten nahmen an diesen Übungen teil, die als «CASSIUS» bezeichnet wurden.
Doch wozu sollte die Schweizer Armee dienen, wenn die sowjetische Bedrohung nicht mehr bestand?
Die Realität der Übungen hat sich geändert. Der Auftrag der Armee wurde überarbeitet: Das Gros der Truppen wurde schrittweise auf eine subsidiäre Sicherheitsfunktion für die Kantone reduziert. 1989 hatte die Schweizer Armee noch einen Sollbestand von 600'000 Soldaten, heute sind es gerade noch 120'000.
In diesen Jahren nach dem Kalten Krieg musste sich der Generalstab regelrecht realistisch wirkende Szenarien aus den Fingern saugen. Seltsame Szenarien manchmal. Amüsante Szenarien, ein anderes Mal.
So kam es, dass 1996 ein Major während eines Wiederholungskurses eine Verteidigungsübung organisierte. Das Szenario: Padanier griffen die Schweiz an. Padanier? Es war wohl eine Anspielung auf Padanien, eine alternative Bezeichnung für den nördlichen Teil Italiens. Just zu dieser Zeit wollte der Führer der Lega Nord, Umberto Bossi, den Norden Italiens vom Rest des Landes abspalten – es war ernst.
Doch das Szenario der Schweizer Armee sorgte in Italien trotzdem für Gelächter. Der Corriere della Sera titelte:
Der zuständige Divisionär entschuldigte sich. Er betonte aber, dass die Themen für die Übungen oft von den aktuellen Gegebenheiten inspiriert seien.
Ebenfalls 1996, im Juni, mussten Soldaten in Le Day im Kanton Waadt Arbeitslose (gespielt von Soldaten) überwältigen, die versuchten, in ein ebenso fiktives Finanzhotel einzudringen. Der damalige Chef des Verteidigungsministeriums, Adolf Ogi, bezeichnete das Szenario als «dumm», als er darauf angesprochen wurde.
Einen Monat später erschien der «Feind» in Orbe, ebenfalls im Kanton Waadt, bei einer Stabsübung nicht mehr als Arbeitslose, sondern als «Geflüchtete», die über die Grenze strömten, mit Drogen handelten und Anschläge mit Dutzenden Opfern verübten. Das volle Programm eben.
Diese Übung rief empörte Reaktionen hervor.
Diesmal deckte Adolf Ogi seine Offiziere, die hinter diesem Szenario steckten, so gut er kann. Denn seit dem Inkrafttreten des neuen Militärgesetzes am 1. Januar 1996 war es der Armee erlaubt, die Polizei bei inneren Unruhen zu unterstützen – allerdings nicht als Repressionskraft.
Auf jeden Fall zeugen diese verworrenen Szenarien von den Legitimationsproblemen der Armee, die nach dem Ende des Kalten Krieges bisweilen drohte, zu dekompensieren.
Ein Offizier stellt den Fall der Schweizer Armee in einen globalen Kontext:
Der Anteil des Verteidigungshaushalts in der Schweiz war auf weniger als 0,7 Prozent des BIP gesunken, während er 1989 noch 1,35 Prozent betragen hatte. Bis spätestens 2030 soll er aber wieder auf 1 Prozent steigen. Seit einigen Jahren wird die Zusammenarbeit mit der NATO verstärkt, um die Interoperabilität zu erhöhen.
Ein Schweizer Offizier bestätigt dies:
Seit den 1990er-Jahren hat die Schweiz vermehrt gemeinsame Übungen mit ausländischen Partnern durchgeführt. Ihr erster militärischer Einsatz ausserhalb des Landes fand im Oktober 1998 in Seyssel im französischen Departement Ain statt. Im Jahr 2000 rollten erstmals ausländische Panzer auf Schweizer Territorium: Ein französisches Panzer-Regiment hatten sich nach Wichlen im Kanton Glarus begeben. Zur gleichen Zeit war eine Schweizer Kompanie des Panzerbataillons 18 nach Mourmelon im französischen Departement Marne unterwegs.
In diesem Kontext ist es umso erstaunlicher, dass ein postapokalyptisches Frankreich der Hintergrund desjenigen Szenarios der Schweizer Armee war, über das man zuletzt schmunzeln musste. Es war das Jahr 2013, die Übung «Saônia» wurde simulierte: «Eine Invasion der Westschweiz durch eine französische Einheit, die aus Dijon kam und durch den Zerfall Frankreichs aufgrund seiner Verschuldung angetrieben wurde», berichtete «Le Temps». Aus heutiger Perspektive fragt man sich: Welches Szenario würden sich die Verantwortlichen heute ausdenken, angesichts der in Frankreich aktuell herrschenden Misswirtschaft?
Ein Schweizer Offizier relativiert die Wichtigkeit der Szenarien sowieso:
(Aus dem Französischen übersetzt: yam)
Das dazu erfundene Szenario ist häufig kaum mehr als ein "Gschichtli" und zweitrangig.