Die Kommandantin einer Infanteriekompanie versammelt ihre Rekruten an einem Freitagabend um 20.45 Uhr im Ehrenhof der Kaserne von Colombier. Sie will einen besonderen Moment der Rekrutenschule mit einer Zeremonie würdigen. Die Infanteristen erhalten ihr Soldatenabzeichen und ihren Grad.
Die Zeremonie läuft so ab: Die Zugführer schreiten mit ihren Einheiten auf eine Plattform. Dort rufen sie die Rekruten nacheinander auf und überreichen ihnen das Abzeichen. Dann verpassen die Offiziere ihren Untergebenen einen Faustschlag darauf. Die Schläge treffen eine empfindliche Körperstelle: das Schlüsselbein oder die Schulter. Die Gruppenführer ermächtigen danach ihre Unteroffiziere, die Soldaten ebenfalls auf die Abzeichen zu schlagen.
Dumpfe Geräusche – verursacht durch die Schläge – hallen durch den Ehrenhof. Einige Soldaten wanken und verlieren das Gleichgewicht, wie Handyvideos dokumentieren.
Eine weitere Rekruteneinheit trifft vom Schiessplatz in der Kaserne ein, um ihre Abzeichen entgegenzunehmen. Die Kommandantin ermuntert die Offiziere, im gleichen Stil weiterzumachen. In scherzhaftem Ton gibt sie den Kadermännern den Tarif durch:
Als Frau im harten Ausbildungsalltag der Bodentruppen will sie Härte demonstrieren. Sie habe befürchtet, als «zu nett» oder «nicht kämpferisch genug» zu gelten, sagt sie später vor der Militärjustiz.
Zuerst ist die Stimmung festlich. Doch dann kippt sie. Die Kader schlagen mit «Wut und Hass» zu, wie beförderte Soldaten später zu Protokoll geben. Unbeteiligte Offiziere bestätigen die Aussagen.
In den Tagen danach melden sich 22 Soldaten beim Truppenarzt. Sie haben Blutergüsse und klagen über Schmerzen in der Schulter und im Brustkorb. Zwei Patienten haben Anzeichen von Rippenbrüchen. Einer muss in eine Notfallklinik und wird acht Tage krankgeschrieben. Ein weiterer Soldat bekommt kaum mehr Luft. Der Truppenarzt stellt für 14 Soldaten Dispensationen aus. Und er reicht Strafanzeige ein.
Der Fall ereignete sich am 6. April 2018. Recherchen von CH Media machen ihn jetzt publik, weil das höchste militärische Gericht, das Militärkassationsgericht, erst kürzlich sein Urteil dazu publiziert hat. Das Strafverfahren dauerte so lange, weil die militärische Justiz ebenso überlastet ist wie die zivile.
Die Militärjustiz hat die Kommandantin und 12 Offiziere verurteilt. Die Haupttäter erhalten dieselbe Sanktion: bedingte Geldstrafen von 15 Tagessätzen und Bussen von 400 Franken. Die Offiziere werden dafür bestraft, dass sie Untergebene geschlagen haben.
Die Kommandantin ist schuldig, weil sie die Gewaltexzesse toleriert und nicht eingegriffen hat. Sie hat im Strafverfahren Verantwortung für ihre Tat übernommen. Als ranghöchste anwesende Offizierin habe sie ihre Pflichten verletzt und sei sie ihrem Status nicht gerecht geworden, gestand sie.
Die inzwischen 35-Jährige ist heute Berufsoffizierin im Rang eines Majors. Die Militärjustiz nimmt sie auch in Schutz und schreibt von «einem bedauerlichen Ausrutscher in einer ansonsten vorbildlichen Militärkarriere». Ihren Status habe sie trotzdem «voll und ganz verdient», heisst es im rechtskräftigen Urteil.
Die Offiziere hingegen versuchten, die Verantwortung auf die Soldaten abzuwälzen. Diese seien mit den Schlägen einverstanden gewesen und hätten einfach weglaufen können. Zudem handle es sich um eine Tradition, die in der Infanterie schon immer so praktiziert worden sei.
Die Militärgerichte lassen diese Argumente nicht gelten. Die Offiziere hätten an diesem Abend gezielt eine Spannung und einen Gruppendruck aufgebaut. Die Soldaten hätten die Schläge über sich ergehen lassen, weil sie nicht als schwach erscheinen wollten. Indem sie den Schmerz aushielten, hätten sie ihren Status als Infanteristen «verdient».
Eine Zustimmung der Soldaten hätte die Justiz ohnehin nicht akzeptiert. Mit den verursachten Verletzungen hätten die Offiziere den Dienstbetrieb zum Nachteil der Armee gestört. Das zweitinstanzliche Appellationsgericht hält fest:
Das Militärkassationsgericht nutzt das Urteil jetzt für eine letztinstanzliche Klarstellung:
Der Begriff steht für Schikanen: In der RS machen die Offiziere ihre Rekruten zu «Hackfleisch», um sie danach im Wiederholungskurs zu «Hamburgern» zu formen. Die Soldaten mussten dabei zum Beispiel rohe Eier samt Schale schlucken und mit Bier herunterspülen. Als Trinkgefässe dienten oft Kampfstiefel.
Schläge für Beförderungen gehen auf alte Rituale zurück. Der Begriff «Ritterschlag» erinnert daran. Die Ritter bekamen oft einen Schlag ins Gesicht, auf den Hals oder auf die Schulter und zeigten Stärke, indem sie diesen Schmerz aushielten.
Die Schweizer Armee betont seit Jahrzehnten immer wieder, dass sie gewalttätige Rituale nicht toleriere und diese eigentlich nicht mehr verbreitet seien. Vor rund 15 Jahren wurde allerdings gleich eine Serie von Fällen publik. Neue Medien gaben damals einen ungefilterten Einblick in den Armeealltag. 2008 kam das erste iPhone mit einer Videokamera auf den Markt. Youtube etablierte sich als Plattform für selbstgedrehte Filme. Die Soldaten dokumentierten die Rituale. Die herkömmlichen Medien skandalisierten sie in dieser Zeit regelmässig. Sogar der Bundesrat musste damals klarstellen, dass er solche Mutproben ablehne.
Trotzdem werden grenzüberschreitende Rituale inoffiziell weiter gepflegt, wenn auch oft in gemässigter Form. Meistens sammeln die Offiziere zuerst die Handys ein, um eine Veröffentlichung zu verhindern. Ein Hauptmann aus dem Kanton St.Gallen berichtet, er habe bei seiner «Hamburgertaufe» Hundefutter, rohe Eier und eine Bratwurst mit Senf essen müssen. Er habe dieses «Menü Surprise» aber genossen und Nachschlag verlangt.
Hubert Annen doziert Militärpsychologie an der Militärakademie der ETH Zürich. Er ist Oberst und unterrichtet alle angehenden Berufsoffiziere über den Sinn und Unsinn militärischer Rituale. Er sagt: «Rituale vermitteln den Menschen Sicherheit.» Im Militär seien sie besonders wichtig. «Denn hier weiss man im Extremfall nicht, ob man von einem Einsatz lebend zurückkommt.»
Er sage seinen Studenten immer, dass die Rituale einen Zusammenhang zur Funktion der Betroffenen haben müssten. Diese sollten ihre Geschicklichkeit, ihre körperliche Fitness oder ihren Mut beweisen. «Mut bedeutet aber nicht, irgendeinen Blödsinn zu machen, zum Beispiel zu scharfes Essen oder zu viel Bier zu schlucken», meint Annen. Von einem angehenden Offizier könne man allerdings zum Beispiel erwarten, dass er vom 10-Meter-Brett springe. Eine Grenze sei überschritten, wenn ein Ritual die persönliche Integrität verletze und nur noch der Belustigung jener diene, die schon dazugehören.
Als Pflichtlektüre lesen die angehenden Berufsoffiziere einen wissenschaftlichen Beitrag über Rituale im Militär. Annen schildert darin das Milgram-Experiment von 1961. «Schüler» sassen dabei in einem Raum und mussten Wörter auswendig lernen. Die Versuchsperson stellte einen Lehrer dar, der die Schüler aus dem Nebenraum mit Stromstössen bestrafen musste, ohne sie zu sehen. Zuerst mit 15 Volt, bei jedem weiteren Fehler erhöhte sich die Spannung.
Ab 75 Volt hörte der Lehrer die Schüler schreien. Ab 150 Volt wandten sich viele Lehrer fragend an den Versuchsleiter. Dieser befahl: «Machen Sie weiter!» Die Lehrer wussten nicht, dass die Geräte nicht unter Strom standen. Ab 330 Volt blieben die Schüler still. Zwei Drittel aller Versuchspersonen gingen bis zur maximalen Stromstärke von 450 Volt. Fazit: Die Anweisung einer Autoritätsperson reicht, damit ganz normale Menschen zu Gewalttätern werden.
Für grenzüberschreitende Rituale bedeutet dies, dass die Täter nicht per se schlechte Menschen sind. Viele Personen lassen sich von solchen Dynamiken vereinnahmen.
Die Kompaniekommandantin hat aus dem Fall ihre Lektion gelernt, wie die Militärjustiz in einem Urteil festhält. Ist es dennoch richtig, dass die Frau danach Karriere machte und heute als Berufsoffizierin die Armee der Zukunft ausbildet?
Psychologieprofessor Annen sieht es positiv:
(aargauerzeitung.ch)