Die Sicht auf dem Militärflugplatz Meiringen ist am 29. August 2016 gut, nur einige tiefe Wolkenfetzen hängen in der Luft, der Wind ist wechselhaft und das Thermometer zeigt 20 Grad. Doch ab 1000 Metern über Meer beginnt eine geschlossene Wolkendecke.
Zwei Kampfjets des Typs F/A-18 rollen auf die Piste. Sie wollen den Luftkampf über dem Sustenhorn und dem Dammastock trainieren. Dabei üben die Piloten Manöver, um ein gegnerisches Flugzeug abzuschiessen. Normalerweise kehren sie nach 45 Minuten wieder zurück, kurz bevor sie das Kerosin aufgebraucht haben. Doch beim Start kommt es innert Sekunden zu einer Verkettung unglücklicher Umstände.
Um 16.00.47 Uhr löst der Pilot der ersten Maschine die Bremse. Er ist der «Leader» und weist seinem Kollegen den Weg. Dieser heisst in der Sprache der Luftwaffe «Trailer», Anhänger, und startet nach 15 Sekunden. In den Wolken sehen sie einander nicht mehr. Deshalb folgt der «Trailer» seinem «Leader» mit dem Bordradar.
Doch der «Leader» sticht in einem steileren Winkel durch die Wolkendecke als sein Kollege. Deshalb verliert dieser den Radarkontakt zu ihm und funkt dem Fluglotsen im Tower von Meiringen den Vorfall. Der Pilot ist nervös und sucht die Worte. Es werden seine letzten sein. Nachfolgend das leicht gekürzte Funkprotokoll.
16:02:05, Trailer: «Trailer ehh is ehh broke lock.» (Er meldet den Abbruch der Radarverbindung. Der offizielle Ausdruck dafür wäre «break lock», doch die Beteiligten in Meiringen verwenden einen Slang.)
16:02:16, Lotse: «Trailer roger, cleared level FL 190.» (Er gibt ihm die Erlaubnis, bis auf eine Flughöhe von knapp 6000 Metern über Meer aufzusteigen.)
16:02:16, Trailer: «Cleared FL 190, Trailer.» (Er bestätigt die Flughöhe.)
16:02:28, Lotse: «Trailer confirm you have radar contact with the Leader?» (Der Trailer soll bestätigen, ob er Radarkontakt zum Leader hat.)
16:02:32, Trailer: «... uhhh, unable ...» (Er verneint stotternd.)
16:02:38, Lotse: «Level off at ehhh FL 100.» (Das ist der verhängnisvolle Fehler: Der Lotse nennt die falsche Flughöhe. Flughöhe 100 entspricht 3000 Metern über Meer. Richtig wäre Flughöhe 150: 4000 Meter über Meer. Diese Zahlen lernen die Piloten und der Lotse im Briefing vor dem Start. Flughöhe 100 galt am Morgen, als die Jets Richtung See starteten. 150 gilt bei den Starts Richtung Gebirge. Vermutlich hatte der Lotse die richtige Zahl im Kopf, doch er sprach die falsche aus.)
16:02:50, Lotse: «And ehh Leader and Trailer contact Batman.» (Der Lotse übergibt an die Flugsicherung in Dübendorf, genannt Batman.)
Die Piloten wechseln die Funkfrequenz und sind vom Tower in Meiringen deshalb nicht mehr erreichbar. Wenige Sekunden später bemerkt der Fluglotse seinen Fehler. «Shit, das geht ja gar nicht», sagt er gemäss einem anderen Lotsen. Er versucht die Einsatzzentrale der Luftwaffe in Dübendorf per Telefon zu erreichen. Doch der Jet ist auf dem Radar schon verschwunden.
59 Sekunden nach der falschen Höhenangabe zerschellt die F/A-18 am Hinter Tierberg auf einer Höhe von 3319 Metern über Meer – elf Meter unterhalb der Krete. Wer die Geografie kennt, weiss, dass die angegebene Flughöhe zu tief war. Die Bergspitzen ragen hier bis 3500 Meter in die Höhe.
Der Pilot stirbt mit 27 Jahren. Der Kampfjet mit einem Buchwert von 29 Millionen Franken liegt in Trümmern.
Die Militärjustiz benötigt mehr als sieben Jahre, um den Fall vor Gericht zu bringen. In dieser Zeit produziert sie 5500 Seiten Akten. Am Donnerstag hat nun endlich die Verhandlung begonnen.
Vor dem Militärgericht, das in Muttenz BL tagt, klagt ein militärischer Staatsanwalt den Leader und den Lotsen wegen fahrlässiger Tötung an. Dafür droht ihnen bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Ankläger wirft beiden vor, sie hätten den Tod des 27-Jährigen verhindern können, wenn sie sich an das Standardvorgehen gehalten hätten.
Wäre der Pilot nicht so steil gestartet, hätte sein Kollege den Radarkontakt nicht verloren. Als Fluglehrer der Patrouille habe er gegenüber seinem Flugschüler eine besondere Verantwortung und hätte besonders vorsichtig vorgehen sollen.
Und der Lotse hätte die richtige Zahl zuerst aufschreiben, dann befehlen, die ausgesprochene Zahl ebenfalls notieren und so kontrollieren sollen. Mit pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte er den Unfall gemäss der Anklage verhindern können. Doch er sei unkonzentriert gewesen.
Hennric Jokeit ist Professor für Neuropsychologie und erforscht das menschliche Gedächtnis. Auf Anfrage analysiert er den Fall. Er führt den «Fehler des Fluglotsen auch auf das menschliche Gehirn zurück». Und sagt:
Unser Gehirn sei nicht dafür optimiert, in einer Stresssituation eine kognitive Leistung unter Zeitdruck hundert Prozent korrekt zu erbringen. Künstliche Intelligenz und Algorithmen könnten das viel besser, meint er.
Den Unfall bezeichnet der deshalb auch als Tragödie der Technologiegeschichte, die in Zukunft wohl verhindert werden könne. Er ist überzeugt:
Funksprüche wären prädestiniert dafür, dass künstlicher Intelligenz diese verstehen und überwachen könnte. Denn sie sind standardisiert und so gewählt, dass sie auch bei schlechter Verbindung verstanden werden können.
Der Lotse arbeitete aber nicht mit der Technik der Zukunft, sondern der Vergangenheit: einem Radargerät aus dem Jahr 1969. Es kam ein Jahr nach der Einführung des Farbfernsehens in der Schweiz auf den Markt.
Der Verteidiger des Lotsen bringt die schrankgrosse Maschine als «Handgepäck» in den Saal. Er hat sie aus einem Museum ausgeliehen. Inzwischen sind in Meiringen neuere Geräte im Einsatz. Ein anderer Lotse, der als Zeuge vor Gericht spricht, beschreibt das alte Gerät als primitiv: «Man muss es sich wie in einem alten U-Boot-Film vorstellen. Alle paar Sekunden gibt es ein Update.»
Auch im Cockpit einer F/A-18 sieht ein Pilot nicht viel. Das Warnsystem ist so eingestellt, dass es erst etwa drei Sekunden vor dem Aufprall Alarm schlägt. Die Luftwaffe begründet dies damit, dass das System bei Manövern in den Alpen sonst dauernd piepsen würde.
In der militärischen Luftfahrt gilt ein anderes Prinzip als in der zivilen. Es gilt nicht «Safety first», sondern «Mission first». Zuerst kommt nicht die Sicherheit, sondern die Mission – gefolgt vom Zusatz «Safety always». Dennoch nimmt die Luftwaffe gewisse Abstriche bei der Sicherheit in Kauf.
Als Notfallorganisation geht sie nach so einem Unfall relativ rasch wieder zur Tagesordnung über. Wenige Tage danach schreiben die Piloten der F/A-18-Staffel dem Lotsen eine Karte, in der sie ihm ihr volles Vertrauen aussprechen. Heute erinnert ein Gedenkstein auf dem Flugplatz in Payerne, wo der verunfallte Pilot stationiert war, an den Verstorbenen.
Für die Lotsen scheint es schwieriger zu sein, den Fall zu verarbeiten. Denn er bedeutet für sie, dass sie bei ihrer täglichen Arbeit mit einem Bein im Gefängnis stehen. Gleich fünf Skyguide-Mitarbeiter des Meiringer Teams sind vor Gericht als Zeugen geladen. Skyguide ist die einzige Flugsicherung in Europa, die sowohl den militärischen als auch den zivilen Verkehr überwacht.
Viele Skyguide-Mitarbeiter verfolgen den Prozess gegen ihren Kollegen mit Sorge. Die Gerichtsverhandlung findet zu einem ungünstigen Zeitpunkt statt. Während der Ukraine-Verhandlungen am 14. Januar und dem anschliessenden Weltwirtschaftsforum in Davos werden militärische Lotsen den Schweizer Luftraum überwachen. Es ist der wichtigste Einsatz des Jahres – einer der wenigen, bei denen die Kampfjets bewaffnet sind.
Fünf Tage vorher, am 9. Januar um 16 Uhr, wird das Militärgericht sein Urteil verkünden. Skyguide und die Luftwaffe haben das Gericht um einen anderen Termin gebeten. Denn in dieser Zeit müssen sich die Lotsen und Piloten eigentlich besonders gut auf ihre Arbeit konzentrieren können. Doch das Gericht ist nicht darauf eingegangen.
Als das Bundesgericht 2019 zum ersten Mal einen Lotsen für einen Fehler verurteilt hat, bei dem niemand verletzt wurde, meldeten sich am Tag danach mehr als zehn Lotsen krank. Am Flughafen Zürich kam es zu Verspätungen.
Beide Angeklagten verlangen einen Freispruch. Verteidiger Till Gontersweiler sagt auf Anfrage: «Der Pilot hat keinen Fehler gemacht. Das zeigt ein unabhängiges fliegerisches Gutachten.» Er wird argumentiert, gewisse Abweichungen vom Standardvorgehen seien normal.
Der Lotse dirigiert bis heute Kampfjets durch den Schweizer Himmel. Er weist die Verantwortung für den Tod des 27-Jährigen von sich. Seine Arbeitgeberin steht hinter ihm.
Wichtig wäre es noch zu wissen welche Instruktion an den Flugschüler bei der Einsatzbesprechung Im Fall eines Kontaktabbruchs zum Leader (break lock) gegeben wurde.
Sie müsste lauten: Bei Kontaktabbruch = climb to FL 190 - maintain FL 190
Ich versteh das einfach nicht. Richtung See 100, Richtung Gebirge 150. Der Lotse nennt aus Versehen 100. Und der Pilot zerschellt.
Verlassen sich Piloten blind auf die Lotsen? Dürfen Piloten nicht hinterfragen? Die Piloten wissen doch, wie hoch die Gipfel sind. Sind die Piloten schlecht ausgebildet?