«Ärzte gaben mir 3 Wochen zu leben» – erster Rollstuhl-Soldat der Schweiz erzählt
Abtreten, Marsch! Jährlich schliessen in der Schweiz tausende Soldaten ihre Wiederholungskurse ab. Nouh Latoui war 2025 einer von ihnen. Doch der 25-Jährige trat nicht ab, er rollte davon: Latoui ist der erste Soldat der Schweizer Armee im Rollstuhl. «Ich bin stolz auf Sie. Und ich bin stolz darauf, dass der erste Rekrut im Rollstuhl unter meinem Kommando gedient hat», schwärmte Armeechef Thomas Süssli im Sommer auf Linkedin.
Das Sonderlob freut Latoui noch heute. Schon als Kind träumte er davon, ins Militär zu gehen. Wegen seiner Querschnittlähmung war dies jedoch nicht so einfach möglich – wie anderes in seinem Leben.
Kampf ums Überleben
Am 27. Januar 2000 bringt eine Frau in Lausanne ihr viertes Kind zur Welt. Nach zwei Mädchen und einem Jungen ist es wieder ein Bub: Nouh. Er hat eine Spina bifida, einen offenen Rücken.
Diese Fehlbildung der Wirbelsäule kann durch Folsäuremangel während der Schwangerschaft begünstigt werden. Beim kleinen Nouh diagnostizieren die Ärzte die schwerste Form der Erkrankung. Und geben das Baby praktisch auf: «Die Ärzte gaben mir bei der Geburt zwischen drei Tagen und drei Wochen zu leben», erzählt Nouh Latoui ein Vierteljahrhundert später.
Auch sein Vater wendet sich ab. «Er wollte sich nicht um einen behinderten Sohn kümmern und verliess die Familie kurz nach meiner Geburt». Latoui sagt diesen Satz ohne sichtbaren Groll. Die Geschichte um seinen Vater, der nur wenige Kilometer entfernt lebt, hat der Lausanner überwunden. Im Kopf, wie auf dem Papier. Vor einigen Jahren änderte er seinen Nachnamen auf denjenigen seiner Mutter.
Sie stand ihrem Sohn bei den bislang 40 Operationen zur Seite. Weitere werden folgen. Aber Latoui will sich davon nicht unterkriegen lassen: «Mir wurde das Leben geschenkt, um es zu leben.» Wenn man ihn denn lässt.
Protest gegen den Ausschluss
Im Lausanner Quartier Eterpeys reiht sich Mehrfamilienblock an Mehrfamilienblock. Der Lärm von der Autobahn gleich in der Nähe stört die Kinder kaum. Hauptsache, es gibt ein Fussball- und Basketballfeld. Holzlatten rund um das Terrain verhindern, dass ein Ball davonrollt. Aber sie verhindern auch, dass eine Person im Rollstuhl auf das Spielfeld gelangt.
Zumindest war dies bis 2017 so. Erst dann reagiert die Stadt: Sie entfernt eine Metallstange hinter dem Tor und macht den Zugang zum 2003 errichteten Spielfeld behindertengerecht. Nun kann auch Latoui mitspielen – etwa als Torhüter im Fussball. «Vom Spielfeld ausgeschlossen zu sein, war für mich als Kind sehr hart.»
Es sollte nicht der einzige Ausschluss vom Sport bleiben. Nach einigen Jahren Unihockey im Elektrorollstuhl – dem sogenannten Powerchair Hockey – wird ihm die Spiellizenz verwehrt. Die Begründung: Er habe zu viel Kraft für eine Person mit Handicap, erzählt Latoui, auf dessen Oberarme so mancher Gym-Gänger neidisch wäre. Er kritisiert: «Sogar im Behindertensport gibt es Diskriminierung!».
Gegenwehr nützt nichts. Denn Powerchair Hockey ist für Menschen mit starken Beeinträchtigungen konzipiert, die auch im Alltag auf Elektrorollstuhle angewiesen sind. Interessierte müssen für eine Spielberechtigung einen medizinischen Klassifikationsprozess durchlaufen – Latoui erhielt den Status «not eligible», wie der Verband bestätigt.
Gefecht um den Militärdienst
Vor seinem 18. Geburtstag bekommt Latoui die Einladung zum Orientierungstag. Vor Ort raunt ihm ein Offizier zu: «Sie wollen wirklich in die Armee? Das wird sehr kompliziert.» Was als gut gemeinter Hinweis durchgeht, wird am Rekrutierungstag wenige Monate später harscher. Der Militärarzt habe ihn als «verrückt» dargestellt und ihm vorgeworfen, er leugne seine Behinderung, sagt Latoui. Das Verdikt: untauglich.
Der Sohn zweier algerisch stämmiger Eltern will das nicht akzeptieren, auch wenn er wegen seiner Invalidität von über 80 Prozent von der Wehrpflichtersatzabgabe befreit ist. Er holt sich rechtliche Unterstützung bei der Behindertenorganisation Inclusion Handicap und reicht einen siebenseitigen Rekurs ein. Zwei Jahre und Dutzende Gespräche mit Ärzten und dem Militär sind nötig, bis die Armee die Ausmusterung aufhebt.
«Am Anfang wurde er wie ein Ausserirdischer behandelt. Die Armee war schlichtweg nicht auf eine solche Situation vorbereitet», erinnert sich sein Anwalt Cyril Mizrahi. Gleichzeitig lobt er, dass sich die Armee mit der Zeit zunehmend lösungsorientiert gezeigt habe – auch bei der Integration in den Dienstalltag im Rekrutierungszentrum in Payerne.
Latoui erhält ein eigenes Zimmer in der Kaserne. Im Keller wird eine rollstuhlgerechte Dusche eingerichtet. Weil er morgens mehr Zeit zum Duschen und Anziehen braucht, steht er früher auf als die anderen. «Ich wollte mich so gut wie möglich dem Militär anpassen, nicht umgekehrt», sagt Latoui. Er fühlt sich gut integriert. Zu Anspielungen auf seine Behinderung kommt es allerdings trotzdem.
Nicht zuletzt deshalb, weil der querschnittgelähmte Rekrut im Büro für administrative Belange zuständig ist und auch Untauglichkeitsentscheide übermittelt – ausgerechnet. Ein junger Mann, der wegen einer kleinen Zyste an der Hand ausgemustert wurde, fragte Latoui: «Wenn ich untauglich bin, was bist du dann?» Das könne er ihm nicht einmal übel nehmen.
Aufstand gegen Dumpinglöhne
Zurück aus der RS fühlt sich Nouh Latoui ausgelaugt. Er bittet seinen Arbeitgeber um eine Woche Urlaub. Der Lausanner arbeitet in einer geschützten Werkstatt als Webdesigner. Eine anerkannte Ausbildung hat er nicht, weil er ab der Sekundarstufe eine Spezialschule besuchte. Die Folgen: zweiter statt erster Arbeitsmarkt, Invalidenrente und 2.50 Franken Stundenlohn statt eines regulären Salärs.
«Ich hätte mich höchstens auf 5 Franken hocharbeiten können, und das bei normalen Arbeitstagen», sagt Latoui. Gerade deshalb habe es ihn empört, dass ihm sein Arbeitgeber die Verschnaufpause verweigern wollte. Er reichte die Kündigung ein.
Den Kampf gegen die Dumpinglöhne hat Latoui damit zwar nicht gewonnen, doch zumindest ein Zeichen gesetzt. Seither lebt er von einer Invalidenrente und widmet seine Energie der Politik.
Ringen um die politische Stimme
Vor dem Rathaus in der Lausanner Innenstadt herrscht reges Treiben: Die einen eilen zur Verwaltung, andere schlendern über den Wochenmarkt. Alle jedoch bewegen sich über Kopfsteinpflaster – ein schwieriges Terrain für jemanden im Rollstuhl. «Einmal ist mein Rad in einer Rinne stecken geblieben und ich bin umgekippt, zum Glück ohne mich zu verletzen», erinnert sich Latoui im Café gegenüber des Rathauses.
Künftig möchte der Lausanner den Weg hierhin häufiger auf sich nehmen. Er kandidiert bei den Wahlen im März für das Stadtparlament, das im Rathaus tagt.
Einer, der unbedingt ins Militär wollte, politisiert sicher für eine bürgerliche Partei – könnte man meinen. Zumal Latoui von sich selbst sagt: «Ich liebe die militärische Strenge».
Doch Latoui ist seit Jahren SP-Mitglied. Er hält die Armee angesichts der globalen Lage für unverzichtbar, während die SP im Parteiprogramm deren Abschaffung fordert. Ganz auf Parteilinie wehrt sich der Jungpolitiker derweil dagegen, im Sozialbereich zugunsten des Militärs zu sparen. Und er hätte lieber einen europäischen Kampfjet statt des US-Modells.
Im kommunalen Wahlkampf rückt Latoui aber andere Themen in den Vordergrund: Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit, humane Arbeitsbedingungen. «Seien es Menschen mit Behinderung, Senioren oder armutsbetroffene Personen: Die Benachteiligung von schutzbedürftigen Menschen zu reduzieren, ist mein Lebenskampf geworden.» Es wird noch ein langer Marsch.
