Der Aargau spielt eine Vorreiterrolle: Als erster Kanton wird er Asylbewerber in Militärzelten unterbringen. Derzeit werden sie im Hauptort Aarau, in Buchs und Villmergen aufgebaut, nächste Woche soll der Bezug erfolgen. Bis 140 zusätzliche Plätze werden geschaffen. Es handelt sich um eine Notmassnahme: Nicht einmal während der grossen Flüchtlingswellen Ende der 1990er Jahre musste der Aargau Zelte aufstellen.
Es fehlt an regulären Unterkünften. «In den Jahren mit tiefen Asylgesuchszahlen hat der Kanton entsprechende Strukturen abgebaut», kritisiert Patrizia Bertschi, Präsidentin des 2005 gegründeten Vereins Netzwerk Asyl Aargau. Die Suche nach neuen Schlafplätzen ist schwierig und wird oft von Nebengeräuschen begleitet. Derzeit ist dies etwa in Laufenburg im Fricktal der Fall, wo der Kanton ein Elf-Zimmer-Landhaus als Unterkunft für bis zu 30 Asylsuchende gemietet hat.
Proteste gegen Asylunterkünfte gibt es in der ganzen Schweiz. Nirgends aber scheinen sie so heftig zu verlaufen wie im Aargau. Immer wieder gab es unschöne Auseinandersetzungen, die schweizweit für Schlagzeilen sorgten.
Anfang der 1990er Jahre weigerten sich Brittnau, Birrwil und Fahrwangen, vom Kanton zugewiesene Asylbewerber aufzunehmen. Während die beiden letzteren nachgaben, blieb Brittnau an der Grenze zum Kanton Luzern jahrelang unnachgiebig. Gemeindeammann Herbert Scheuermeyer (FDP) begründete den Widerstand mit dem Fehlen passender Unterkünfte. Von Kritikern der Schweizer Asylpolitik wurde der Gärtnermeister als Winkelried gefeiert.
In einer Militäranlage am Ortsrand von Bettwil wollten Bund und Kanton ein Zentrum für 140 Asylsuchende einrichten. Als die Pläne im November 2011 bekannt wurden, erhob sich massiver Widerstand im Dorf mit 560 Einwohnern. Mit Transparenten, Mahnfeuern und Güllenwagen wehrten sich die Bettwiler gegen die «Massen-Asylunterkunft». Als ein Rechtsgutachten zum Schluss kam, dass für die Umnutzung der Militäranlage eine Baubewilligung notwendig wäre, blies der Kanton die Übung ab.
Auf dem Waffenplatz Bremgarten wurde im August 2013 das erste von mehreren geplanten Bundesasylzentren eröffnet. Im Gegenzug verordnete die Stadt den Flüchtlingen unter der Woche ein Rayonverbot für Schul- und Sportanlagen, mit dem Segen des Bundesamtes – heute Staatssekretariat – für Migration. Internationale Medien stürzten sich auf das Bremgarter «Badiverbot», der britische «Independent» fühlte sich an die Apartheid in Südafrika erinnert. Stadt und Bund stellten darauf klar, dass Asylsuchenden der Zugang zum Schwimmbad mit Begleitpersonen jederzeit möglich sei.
Mit einer Grillparty protestierten rund 300 Personen im April 2014 gegen die Pläne des Kantons, bis zu 90 Asylbewerber in zwei Wohnblocks in Aarburg unterzubringen. Für viele in der strukturschwachen Gemeinde war das Mass voll. Verhindern liess sich der Bezug der Unterkunft jedoch nicht. Bundesrätin Simonetta Sommargua zeigte sich empört: «Ich habe null Verständnis und finde es beschämend, wenn man in unserem Land Grillpartys macht gegen Kriegsflüchtlinge.»
Dies sind nur die bekanntesten von zahlreichen Fällen, die im Aargau für Zoff sorgten. In Menziken etwa wurden im Juni 3500 Unterschriften für eine Petition gegen ein Asylzentrum in einem ehemaligen Hotel gesammelt. Patrizia Bertschi relativiert: «Es gibt im Aargau viele Gemeinden, in denen kein Widerstand existiert.»
Trotzdem kommt das Image als steiniger Boden für Asylsuchende nicht von ungefähr. Der einst als klassischer Durchschnittskanton geltende Aargau ist vor allem in Ausländerfragen nach rechts gerückt und wurde zur «Avantgarde in Sachen Asyl-Protest», wie der Politgeograf Michael Hermann im Tages-Anzeiger erklärte. Die Ursache sieht Hermann im Wandel der letzten Jahrzehnte von einer ländlichen Region zum Agglo-Kanton: Die Bürger seien aus ihrer «kleindörflichen Idylle» gerissen worden und hätten darauf «mit starker Abwehr auf Fremdes» reagiert.
Ein weiterer Grund ist für Patrizia Bertschi die starke SVP-Mehrheit in den ländlichen Gebieten, die «Öl ins Feuer» giesse. Niemand beherrscht dies besser als Andreas Glarner, SVP-Fraktionschef im Grossen Rat, dem Kantonsparlament. Er schreckt vor keiner Provokation zurück. Glarner ist ausserdem Gemeindeammann von Oberwil-Lieli, dem kantonalen Steuerparadies. Dort wehrt er sich mit Händen und Füssen gegen die Aufnahme von Asylbewerbern. Alte Häuser im Dorf lässt er abreissen, damit sie nicht als Flüchtlingsunterkunft genutzt werden können.
Ein solches Verhalten stösst in weniger privilegierten Orten wie Aarburg oder Menziken sauer auf. «Wir fordern höhere Beiträge von Gemeinden an den Kanton, die ihrer Pflicht mit der Aufnahme von Asylsuchenden nicht nachkommen», heisst es in der Menziker Petition. Bislang kamen Gemeinden, die keine oder zu wenig Asylbewerber beherbergen, relativ günstig davon, sie mussten bloss eine «Ersatzabgabe» von zehn Franken pro Tag und Asylbewerber zahlen. Mehr als ein Drittel aller Aargauer Gemeinden nahm überhaupt keine Asylsuchenden auf.
Der Grosse Rat hat diese Regelung deutlich verschärft, nun sind die Vollkosten von rund 113 Franken pro Tag fällig. Ausserdem hat sich das Parlament für den Bau von Grossunterkünften mit 100 bis 150 Plätzen ausgesprochen. Für Patrizia Bertschi vom Netzwerk Asyl «ein guter Weg». Die Standortsuche werde damit nicht einfacher: «In Gemeinden wie Villmergen und Untersiggenthal aber existieren schon heute Unterkünfte für rund 100 Personen, ohne dass es Probleme gibt. Teilweise wissen die Leute gar nicht, dass es diese Zentren gibt und wo sie sich befinden.»
Es fehlt im Aargau nicht an positiven Beispielen. Als einer von bislang vier Kantonen erlaubt er die Unterbringung von Asylsuchenden bei Privatpersonen. Die zuständige Regierungsrätin Susanne Hochuli (Grüne) ging mit gutem Beispiel voran, sie hat einer Familie aus Angola eine Wohnung auf ihrem Bauernhof in Reitnau vermietet.
Patrizia Bertschi, deren Verhältnis zu den Behörden nicht immer spannungsfrei war – sie hatte zeitweise Hausverbot in den Aargauer Asylunterkünften – attestiert dem Kanton unter Hochuli eine «positive Entwicklung». Wichtig seien langfristige Lösungen, meint die ehemalige SP-Grossrätin. Diese könnten aber nur zusammen mit den Gemeinden und der Zivilgesellschaft entwickelt werden. Eine Aufgabe, die gerade im Kanton Aargau nicht immer ganz einfach ist.
Wenn ich die Kommentarspalte von 20min durchlese (übrigens, bei keinem Medium sollte man unregistriert Kommentare abgeben dürfen, und wenn dann sollte man sie besser kontrollieren), dann packt mich das Grauen.