357.
Diese Zahl steht für 357 individuelle Geschichten im Jahr 2023. Manche dieser Geschichten sind kurz und knapp. Andere sind tragisch, andere wiederum rührend und einige skurril. Es sind die Geschichten der Katzen, die im Verlauf des Jahr 2023 im Katzenheim in Muttenz des Tierschutzbunds Basel (TSB) aufgenommen wurden.
Ein Blick hinter die Kulissen der grössten Katzen-WG der Schweiz, in der auch illegale Hunde-Zuchten und Rettungsaktionen für Fische eine Rolle spielen.
Muttenz ist eine Gemeinde im Kanton Basel-Landschaft. Und in Muttenz gibt es ein Haus, in dem nur Katzen leben. Die Büsis werden hier nicht etwa hinter Mauern versteckt, sondern sie sonnen sich gerne an der Glasscheibe, die sich über einen Teil der Fassade des mehrstöckigen Gebäudes erstreckt, das direkt an der Hauptstrasse in Muttenz steht.
An dem Dezembertag, an dem diese Reportage aufgezeichnet wird, werde ich dann auch vor Betreten des Gebäudes von einer Katze begrüsst, die sich direkt an dieser grossen Scheibe eingerollt hat und döst. Kaum bin ich durch die Türe ins Warme getreten, rieche ich Desinfektionsmittel und eine schwache Note Katzenurin. Eine Mitarbeiterin empfängt mich herzlich.
Die ersten Büsis, die ich hier drinnen erblicke, sehe ich vorerst nur durch eine Glastüre. Hinter dieser Türe befindet sich die Katzen-WG – «die Gemeinschaft», wie sie hier genannt wird –, an deren grossem Fenster ich mir eben noch die Nase platt gedrückt habe. Doch meine Reise durch das Tierheim beginnt nicht etwa, indem sich diese Glastüre zum Katzenparadies für mich öffnet, sondern an einem Ort, den man normalerweise nie zu Gesicht bekommt als Besucher: der Quarantänestation. Während mich die Mitarbeiterin durch die verwinkelten Treppen und Gänge des Altbaus zur Quarantänestation führt, erzählt sie mir die Geschichte von Madame Tricolor:
Eine der 357 Katzen, die im Jahr 2023 im Katzenheim Muttenz aufgenommen wurden, ist Madame Tricolor. Madame ist eine ältere Streunerin. Als die Tierpfleger sie aufnehmen, hat sie ein verfilztes Fell und ihr Mäulchen stinkt fürchterlich, da ihre Zähne faul sind. Das Tierheim beschliesst, Madame nach ihrer Kastrierung nicht mehr zurück in ihr Streunerleben zu entlassen, sondern ein behütetes Zuhause für sie zu finden. Der Weg dahin sollte schwer werden.
Zuerst müssen der alten Dame alle faulen Zähne gezogen werden, worauf sie quasi zahnlos zurückbleibt. Doch anstatt zu gesunden, beginnt sich das Zahlfleisch der Katze nach dieser OP noch mehr zu entzünden und muss mit Cortison-Spritzen alle paar Wochen behandelt werden. «Verlor die Spritze ihre Wirkung, lief Madame Tricolor der faulige Speichel aus dem Maul heraus und über Brust und Pfoten.»
Neben ihren gesundheitlichen Problemen ist Madame keine Schmusekatze, sondern zeigt sich gerne mal zickig und verteilt Tatzenhiebe. Auch das macht eine Vermittlung nicht einfacher. «Dabei war sie doch eine ganz tolle und lustige.»
Während andere Katzen kommen und gehen, bleibt Madame Tricolor im Tierheim. Doch dann die grosse Chance: Nach sieben Monaten im Tierheim findet sich im November eine Familie, die Madame viel Freigang sowie ein Pferdestall bieten kann. Und wer hätte es gedacht, die Seniorin hat sich in der Zwischenzeit zu einer Kuschlerin gemausert.
Mittlerweile stehen wir in einem Innenhof. Ich will wissen, warum Mitarbeitende des Tierheims alte Katzen wie Madame Tricolor denn überhaupt noch einfangen? Um diese Frage zu beantworten, muss die Mitarbeiterin ausholen – und ich erfahre, warum das Katzenheim in Muttenz eben nicht nur ein Tierheim ist, sondern in erster Linie das Aushängeschild eines Vereins, der sich voll und ganz dem Tierschutz verschrieben hat.
Als Tierschützer kümmern sich die Mitarbeitenden des Katzenheims um verwildert Katzen, die keine Besitzer haben, in den Kantonen Baselland und Basel-Stadt. Die Tiere werden vom TSB eingefangen, kastriert und geimpft. Bei diesen Aktionen gehe es in erster Line darum zu verhindern, dass Katzen sich weiterhin unkontrolliert vermehren. So könne viel Leid aufgefangen werden, denn verwahrloste Katzen verschleppten Seuchen und Krankheiten, bei Verletzungen siechten sie vor sich hin, bevor sie qualvoll verendeten. Nach der Kastrierung werden die verwilderten Katzen wieder in die Freiheit entlassen. Doch bei einigen kranken und alten Tieren – wie Madame Tricolor es war – entscheiden die Tierpfleger, dass es sinnvoller ist, die Katzen in ein stabiles Zuhause zu vermitteln.
Diese Tiere werden dann zuerst in der Quarantänestation untergebracht. Mittlerweile haben auch wir den Innenhof durchquert und den Vorraum zur Quarantänestation betreten. Hier ist alles praktisch eingerichtet, um alle Hygienerichtlinien einhalten zu können. Die ausgebildeten Pfleger und Tierärzte betreten diesen Raum ausschliesslich mit desinfizierten Spezialschuhen. Hier also hat Madame Tricolor ihre erste Zeit verbracht. Doch während sie es mit viel Glück und Zuwendung des Personals aus der Quarantäne geschafft und ein Zuhause gefunden hat, schaffte es die kleine Ili nicht. Das ist ihre Geschichte:
Ili kommt nicht während einer Kastrierungsaktion ins Tierheim, sondern weil besorgte Anwohner den Tierschutz aufbieten, da ein nur wenige Wochen altes Kätzchen allein umherirrt. Als die Pfleger das Tier finden, ist es sehr geschwächt und gezeichnet von gesundheitlichen Problemen. «Trotzdem war sie ein Sonnenschein, den man sofort ins Herz schliessen musste!»
Das tierärztliche Team findet schnell heraus, dass Ili an einem sogenannten «Pectus Excavatum» leidet, einer Fehlbildung, bei der Brustbein und Rippenknorpel so stark deformiert sind, dass es zu erheblichen Atemproblemen kommt. In der freien Natur hätte Ili keine Überlebenschancen gehabt – das war wohl auch der Grund, weshalb ihre Streuner-Mama sie zurückliess. Obwohl der TSB viel Geld in die medizinische Betreuung von Ili steckt und alles versucht, um sie aufzupäppeln, hat das Kätzchen nicht überlebt. Es starb nach wenigen Wochen in Obhut der Tierpfleger an den Folgen seiner Behinderung. «Das war hart.»
Warum man so viel Geld in ein offensichtlich krankes Tier investiert, will ich von der Mitarbeiterin des Katzenheims wissen. «Wir versuchen jedes Tier zu retten, solange wir annehmen können, dass es noch ein gesundes und schmerzfreies Leben führen kann. Und gerade bei Jungtieren stehen die Chancen sehr gut, dass sie sich erholen und an Menschen gewöhnen. Aber wenn wir sehen, dass dies nicht der Fall ist, dann erlösen wir dieses Tier von seinem Leid», werde ich aufgeklärt.
Doch woher nimmt der Tierschutzbund Basel so viel Geld, um auch solch kostspielige Fälle zu stemmen? Die Antwort überrascht mich:
Wenn eine Katze vermittelt wird, dann bezahlt der neue Besitzer für sie etwa 300 Franken – dieser Betrag ist symbolisch und für das Tierheim in fast jedem Fall ein Verlustgeschäft.
Neben Spenden kommt beim Verein Tierschutzbund Basel noch Geld über die Tierambulanz, mit der vorwiegend ältere Menschen unterstützt werden, wenn ihr Haustier zum Tierarzt muss, sowie über die Katzenpension. Während wir wieder im Innenhof stehen, registriere ich erst die vielen Catteries. Hier wohnen also nicht nur Tierheim-Katzen, sondern in strikt voneinander getrennten Abteilungen werden auch Katzen verwöhnt, deren Besitzer in den Ferien weilen. «Wir sind fast immer ausgebucht!»
Von dem Geld, das so die Kassen füllt, werden nicht nur die Kosten beglichen, die die Tiere verursachen, sondern auch die Löhne von zehn Tierpflegern, zwei Praktikanten und zwei Admin-Mitarbeiterinnen bezahlt. Eine der Praktikantinnen verrät mir, während sie liebevoll eine Katze auf sich herumturnen lässt, dass Tierpflegerin ihr Traumberuf sei, seit sie denken könne. Dass sie damit nur wenig Geld verdiene, sei ihr sehr wohl bewusst. Aber Tierpflegerin sei nun mal eher eine Berufung als ein Beruf. Ich glaube ihr jedes Wort.
Bevor wir die grosse Gemeinschaft besuchen, hat die Mitarbeiterin des TSB noch eine Überraschung für mich: Ich darf die Baby-Station des Tierheims besuchen! Auf dem Weg dahin erspähe ich riesige Industrie-Waschmaschinen und einen Raum, in dem Kratzbäume auf ihren Einsatz warten und sich Handtücher stapeln. Nach allem, was ich über die Finanzen des Vereins gehört habe, erstaunt es mich nicht, dass die Mitarbeiterin erwähnt, dass nicht nur Geldspenden, sondern auch Sachspenden jederzeit herzlich willkommen seien.
Auch auf der Baby-Station gelten Hygienevorschriften und ich muss meine Strassenschuhe gegen desinfizierte, pinke Crocs tauschen.
Hier im ersten Stock des alten Gebäudes betrete ich das Reich von Madonna. Die filigrane Katzendame mit tiefschwarzem Fell fläzt sich sogleich vor mein neues Schuhwerk und fordert mich zu Streicheleinheiten auf. Wie drei winzige Schatten folgen ihr die Kitten Valentina, Vita und Vincent auf dem Fuss. Das ist die Geschichte der kleinen Familie:
Madonna war keine wirkliche Streunerin, doch gehört hat sie auch niemandem. Sie hatte sich nämlich ein Plätzchen auf einem Bauernhof eingerichtet. Als der Landwirt bemerkt, dass die Kätzin trächtig ist, meldet er sie beim Tierschutz. «Wenn man diese Katzen dann nicht findet, dann bringt sie ihre Jungen irgendwo auf die Welt. So gibt es dann Fälle wie die von der kleinen Ili.»
Madonnas Kitten kommen dann im späten September im Katzenheim auf die Welt. Im Tierheim entwickelte sich die Kätzin zu einem «Übermami». Jetzt wird für die drei Rabauken und die mittlerweile kastrierte Mama ein Zuhause gesucht.
Mit einem Augenzwinkern bemerke ich, dass die Mitarbeiterin des TSB wohl ein Traumjob habe, da sie den ganzen Tag Katzen-Babys streicheln können. «Das hier ist wirklich mein Traumjob. Allerdings kann ich nicht den ganzen Tag Katzen streicheln – auch wenn ich das gerne würde. Denn wir werden mit Anfragen und Tierschutzmeldungen überhäuft!», antwortet sie.
Erst kürzlich wurde der TSB in eine kleine Wohnung gerufen, in der ein «Hobby-Züchter» die Hunderasse Bichon Firsé vermehrte: Zwei Mütter und elf Welpen vegetierten in kargen Palettenrahmen. Die Welpen hat der Mann übers Internet verkaufen wollen. Die Behörden wurden eingeschaltet und der Besitzer hat sich überzeugen lassen, die Hunde dem TSB zu übergeben, damit der Verein ein geeignetes Zuhause für die Hunde finden kann. Der TSB musste so die Kosten für die Unterkunft, die Pflege und die medizinische Versorgung übernehmen.
Ein anderes Mal wurde die Tierambulanz gerufen, um Goldfische aus einem Teich zu fischen, der mehr Schlamm als Wasser war. In einer grossangelegten Aktion wurden die Tiere gerettet und in einen Weiher umgesiedelt. «Dieser Einsatz hat wieder einmal deutlich gemacht, wie Fische oft falsch eingeschätzt werden. Fische sind stressanfällig und schmerzempfindlich. Ihr Leiden wir aber oft nicht erkannt.»
Wir sind endlich in der grossen Katzen-WG angekommen. Hier leben über dreieinhalb Stockwerke und in einer grossen, geschlossenen Aussenanlage diejenigen Katzen, die ein neues Zuhause suchen. Überall stehen Kratzbäume, von denen aus Katzen mich interessiert mustern.
Zwischen den Kratzbäumen gehen einige Frauen umher und streicheln die Katzen. Ich schaue die Mitarbeiterin vom TSB fragend an. Es stellt sich heraus, dass diese Frauen freiwillige Streichlerinnen und Spielerinnen sind. «Allerdings kann man nicht einfach vor unsere Türe stehen und Katzen streicheln. Man muss sich zuerst anmelden und in einen Kalender eintragen lassen. Sonst wird es hier zu voll!»
Aus einer Liegebank am Fenster blinzelt mich ein grosser, kräftiger Kater an. «Das ist Ginko.»
Ob es für Ginko schon Interessenten gebe, frage ich. «Ginko ist eine Patenkatze. Für ihn kann man eine Patenschaft übernehmen, während er ihm Tierheim wohnen bleibt. Patenkatzen haben wir derzeit fünf. Sie sind nur schwer zu vermitteln. Einige von ihnen sind nicht stubenrein, andere chronisch krank. Und Ginko hat seinen eigenen Kopf.» Der Kater macht die schönen Augen wieder zu und schlummert weiter auf seinem Fensterplatz.
Es ist Zeit für mich, zu gehen.
Das Geld dazu lässt sich problemlos von den Subventionen für die Massentierhaltung amziehen.