Vom Bahnhof Ins blicken wir westwärts in eine weite Ebene hinaus – und dahinter sieht man die Silhouetten des Juras und des Jolimonts. Vor 150 Jahren bot diese Gegend einen ganz anderen Anblick. Um das Lebenswerk von Otto Kellerhals zu begreifen, müssen wir uns in jene Zeit zurückversetzen.
Wo sich heute üppige Fluren, schöne Korn- und Weizenäcker, riesige Kartoffel-, Rüben- und Gemüsefelder ausdehnen, da lag einst ein grosses Moosland. Niemandsland war es zur Hauptsache. Denn von Zeit zu Zeit wurde es heimgesucht von grossen Überschwemmungen, die vom Murtensee zum Neuenburgersee und der Zihl entlang bis hinab zum Bielersee die ganze Ebene mit einem riesigen zusammenhängenden See bedeckten.
Aus der Ebene ragten nur einzelne Bäume oder Baumgruppen empor. Hatte sich das Wasser wieder verzogen, dann war das Grosse Moos noch wochenlang mit Tümpeln und Schlamm bedeckt. Ein Paradies der Sumpfvögel, der Wildenten, Störche und Reiher. Der Boden war bedeckt mit Riedgras und Schilf. Zum Anbau von Kulturpflanzen und zur Anlage von Kunstwiesen tauge der saure Boden nicht. Die Bauern der benachbarten Dörfer Gampelen, Ins und Müntschemier holten hier im Sommer ihre Streue.
Zu Zeiten der Überschwemmungen drohte vom Moos her die Gefahr des gefürchteten Sumpffiebers und anderer verderblichen Seuchen. Landvogt Sinner berichtete der bernischen Regierung, der Grund der Armut vieler Bauern liege in der verderblichen Moosweide, in der zwischendurch auch Kühe und Pferde versanken. «Es ist unstreitig, dass fast die Hälfte der Schulden zu Ins von dem Verluste des Viehes und der Pferde herrührt, die durch die schlechte Fütterung im Winter und die noch schlechtere Moosweide im Sommer zu Grunde gegangen sind. Doch sind die Bauern so unverständig, und so von der alten Gewohnheit betäubt, dass sie keiner Veränderung Gehör geben und wie ihre Väter und Voreltern töricht handeln und ihren eigenen Schaden befördern wollen.»
Und nun steht die Frage im Raum: Wie ist diese unfreundliche Moor- und Sumpfgegend in die blühende Kulturlandschaft verwandelt worden, die wir heute kennen? Und vor allem:
Anfang der 1800er Jahre kommt man auf den Gedanken, das Grosse Moos zu entsumpfen und die Flüsse zu kanalisieren. Der Arzt und Politiker Johann Rudolf Schneider aus Meienried (1804 – 1880) setzte sich mit Mut und Geschick für die Juragewässerkorrektion ein und der Nationalrat gilt als Vater dieses Projektes. Es dauert lange bis zum ersten Spatenstich. Entweder harzt es bei den vier Kantonen Bern, Freiburg, Neuenburg und Solothurn oder dann bei den Gemeinden, die sich über die Höhe der finanziellen Beteiligung nicht einigen können. Erst als sich nach der Gründung des Bundesstaates Schweiz (1848) die Eidgenossenschaft (der Bund) eine finanzielle Beteiligung in Aussicht stellt, geht es vorwärts. 1867 bewilligen beide eidgenössischen Räte eine Kostenbeteiligung von fünf Millionen und am 17. August 1868 beginnen die Arbeiten.
Szenenwechsel: Im Jahre des Herrn 1869 kommt der Amtsnotar zu Erlach, Friedrich Emanuel Witz (1819 – 1887), auf den Gedanken, im Grossen Moos eine Fläche Land von verschiedenen Gemeinden aufzukaufen und sie, sobald der Stand der Juragewässerkorrektion es gestatten würde, anzubauen. Im heutigen Sinne ein Spekulant, damals eher ein wagemutiger Pionier.
Zu dieser Zeit ist die ganze Welt geblendet durch den riesigen Erfolg des Ackerbaus auf den jungfräulichen Böden in der nordamerikanischen Prärie und der schwarzen Erde in der Ukraine. 1870 gründet der Amtsnotar eine Aktiengesellschaft, die das zusammenhängende Landstück zwischen Ins, Gampelen und der Broyemündung mit einer Fläche von etwa 800 Hektaren erwirbt.
Es ist das Land, das wir, wie eingangs erwähnt, vom Bahnhof Ins aus überblicken. Heute ist es blühendes, fruchtbares Bauernland und entspricht ziemlich genau Witzwil. Damals ist es noch unfruchtbarer, saurer Moorboden, den Friedrich Emanuel Witz billig erworben hat und den er nun urbar machen will. Er und seine Geschäftsfreunde gehen davon aus, dass man das Land nur pflügen müsse und dann werde daraus eine Kornkammer, ein Grasland (Prärie) wie in Amerika.
Aber die Sache rentiert nicht. Der Boden im Moos ist zu neun Zehnter Moorboden, also nicht mineralischen, sondern primär pflanzlichen und tierischen Ursprungs. Die für den Pflanzanbau notwendigen Mineralstoffe fehlen. Das Wissen um die erfolgreiche Urbarmachung solcher Böden fehlt in der Gegend.
Die Firma fällt 1879 in Konkurs. Aber niemand will das Moosland aus der Konkursmasse kaufen, auch die Bauern nicht. Witzwil kommt mit allen darauf erbauten Gebäuden in den Besitz der Banken. Sie sind Pfandgläubiger, allen voran die «Eidgenössische Bank». Sie übertragen die Bewirtschaftung Pächtern und nach und nach gelingt es, wenigstens Verluste zu vermeiden. Aber Geld ist nicht zu verdienen und so sind die Banken als Hauptgläubiger noch so glücklich, dass der Kanton Bern am 12. März 1891 Witzwil für 742 760 Franken aufkauft. Die gesamte Liegenschaft wird in Erinnerung an den Notar Witz aus Erlach Witzwil genannt. So ist Witzwil zu seinem Namen gekommen.
Der Kanton Bern hat nicht vor, hier mit Landwirtschaft Geld zu verdienen. Die Staatsdomäne umfasste 800 Hektaren, fünf Stunden benötigt man, um seine Grenzen abzuschreiten. Für die Bewirtschaftung des gesamten Gutes sind 700 bis 800 Arbeitskräfte notwendig.
Zu jener Zeit befasst man sich im Kanton Bern mit der Entfernung der Strafanstalten aus der Stadt Bern. Warum mit den Sträflingen nicht nach Witzwil? Und nun kommt der grosse Otto Kellerhals ins Spiel. Der Mann, der hier ein halbes Jahrhundert lang wirken wird und dessen Name in goldenen Buchstaben im Geschichtsbuch von Witzwil steht und der weltweit als Pionier in Sachen Strafvollzug internationale Bekanntheit erlangen wird.
Otto Kellerhals kommt am 20. Mai 1870 in Aarwangen bei Langenthal zur Welt. Ottos Vater ist Landwirt und handelt nebenbei mit Holz. Da gibt es für den Knaben mehr als genug Arbeit. Früh wird er, wie es zu dieser Zeit der Brauch ist, zur Arbeit angehalten. Er lernt mähen, melken, pflügen und säen. Er lernt aber auch fuhrwerken und mit Pferden umzugehen. Und er lernt das Befehlen. In Aarwangen besucht er die Primarschule, anschliessen in Langenthal die Sekundarschule.
Sodann reist er nach Deutschland. Nach Halle, um an der dortigen landwirtschaftlichen Abteilung der Universität während eines Jahres seine praktischen Kenntnisse der Landwirtschaft auch theoretisch und wissenschaftlich zu untermauern und zu vertiefen. Sein Vater ist erst nicht einverstanden, lässt den Bub aber schliesslich doch gewähren und finanziert ihm das Studium. Dort lernt Otto Kellerhals die moderne Moorkultur kennen. Er macht sich vertraut mit dem Entsumpfen und Drainieren des Moorbodens und lernt die Einwirkung des Grundwassers auf das Wachstum der Pflanzen kennen.
Der Vater rechnet damit, dass sein Sohn den Landwirtschaftsbetrieb und den Holzhandel in Aarwangen übernehmen und weiterführen wird. Aber Kellerhals Junior hat andere Lebenspläne als sein Vater. Der Aufenthalt in Deutschland hat ihn neugierig und weltoffen gemacht. Aarwangen ist ihm zu eng. Im Jahre des Herrn 1891 sucht der Kanton für seine Anstalt St.Johannsen am Zihlkanal einen Adjunkten. Also einen Assistenten für den Direktor. Otto Kellerhals wird gewählt. Die alte Benediktinerabtei dient zu dieser Zeit als Strafanstalt für Frauen. Hier lernt der junge Kellerhals das Handwerk des Strafvollzuges.
Wie wir wissen, hat der Kanton Bern 1891 die Domäne Witzwil gekauft. Per 1. Januar 1893 wird die Strafanstalt Bern aufgegeben. Sie soll Schritt für Schritt ins Grosse Moos verlegt werden und vorerst kümmert sich die Verwaltung von St.Johannsen auch um das Management von Witzwil.
Die eigentliche Geschichte von Witzwil hat aber bereits am 1. März 1891 begonnen. Otto Kellerhals zügelt mit einer Sträflingskolonie nach Witzwil hinüber und übernimmt die Leitung. Am 1. Mai 1895 wird Witzwil schliesslich eine selbständige, von St.Johannsen unabhängige bernische Strafanstalt und Otto Kellerhals ihr erster Direktor.
Die Einrichtung der Anlage ist am Anfang sehr primitiv. In einem baufälligen Bauernhaus und einem nicht mehr benützten Wirtshaus finden die Sträflinge und die Verwaltung Unterkunft. Ein leerer Pferdestall dient als Kantine und am Sonntag als Lokal für den Gottesdienst. Das Lebenswerk von Otto Kellerhals beginnt.
In der Kultivierung des Moosbodens sieht er seine Hauptaufgabe. Er ist auf die Mitarbeit der Sträflinge angewiesen. Wochenlang ist er mit ihnen in Witzwil allein. Er ist Verwalter, Aufseher, Gutsverwalter und praktizierender Landwirt in Personalunion. Nur ab und zu kommt Pfarrer Wyss aus Ins vorbei.
Von grosser Bedeutung ist natürlich, dass so billige Arbeitskräfte in grosser Zahl für den landwirtschaftlichen Betrieb und die Bodenverbesserung zur Verfügung stehen. Der Kanton macht es sich einfach. Geld wird nicht investiert. Von Direktor Otto Kellerhals wird erwartet, dass er die Strafanstalt aus den Erträgen der Landwirtschaft finanziert. Das Kunststück gelingt ihm.
Das in Halle erworbene Wissen kommt ihm jetzt zugute. Zu Beginn der 1900er Jahre beginnt der Betrieb zu rocken. Aus dem einstigen sauren Moorboden ist nun Gras-, Weide und Ackerland geworden. Otto Kellerhals ergänzt den Ackerbau mit Viehzucht. Er kommt zur Überzeugung, dass für den riesigen Betrieb die Aufzucht von Zugochsen rentabler ist als Milchwirtschaft. Jahr für Jahr werden nur 60 Kuhkälber aufgezogen, die ausschliesslich der Ergänzung des Milchviehbestandes der Anstalt und damit der Eigenversorgung dienen. Daneben werden 60 bis 80 männliche Tiere als Zugtiere für den eigenen Betrieb oder zum Verkauf im Alter von zwei bis drei Jahren aufgezogen.
Was heute der John Deer dem Bauer, das ist zu Beginn des letzten Jahrhunderts der Zugochse. Die Tiere können, da so viel Land zur Verfügung steht, billig gehalten werden. Über Jahre ist die Nachfrage nach den legendären Witzwiler Zugochsen enorm und sie gewinnen erst recht in der Zeit des 1. Weltkrieges (1914 bis 1918) an Wert, als die Armee alle Pferde einzieht. Die Milchwirtschaft in einer eigenen Käserei spielt hingegen keine grosse Rolle und bald wird auf Butterfabrikation umgestellt.
In geringem Umfang werden auch Kartoffeln angebaut, aber vom Brennen von Kartoffelschnaps kommt Otto Kellerhals nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus erzieherischen Gründen bald wieder ab. Er hätte die Schnapsbestände wohl rund um die Uhr bewachen müssen und es kann ja nicht sein, dass man Sträflinge Schnaps brennen lässt. Er setzt darum auf den Anbau von Zuckerrüben und auch das funktioniert in Zusammenarbeit mit dem Aufbau einer Zuckerfabrik in Aarberg. Der gesamte Viehbestand beträgt 1903 460 Stück Rindvieh, 38 Pferde und Fohlen sowie 151 Schweine.
Zu dieser Zeit beaufsichtigt Otto Kellerhals zwischen 110 und 150 Gefangene. 40 bis 50 Angestellte und vier bis sechs Arbeiterfamilien stehen im Dienste des Betriebes. Zu wenig, um das gesamte Land nach seinen Vorstellungen zu bebauen und den Betrieb weiter auszubauen. Also sucht er Mittel und Wege, um zu mehr billigen Arbeitskräften zu kommen – und findet sie.
Nach und schickt nicht nur der Kanton Bern seine «Bösewichte» nach Witzwil. Immer mehr Kantone schicken ihm ihre Sträflinge, erst Freiburg, Genf und Basel und dann auch andere. Otto Kellerhals bemüht sich, den bernischen Strafvollzug zu zentralisieren. In der Folgezeig steigt die Zahl der Sträflinge, die Witzwil beherbergt. Für das Wachpersonal rekrutiert er kräftige, kernige Kerle aus dem benachbarten Tschugg, einem kleinen Dorf mit nicht ganz 500 Einwohner. Tschugger passen also auf die Delinquenten auf. Das ist der Grund, warum im Bernbiet heute noch da und dort Polizisten als «Tschugger» bezeichnet werden.
Maximal wird Witzwil rund 600 Sträflinge aufnehmen. Dieser Höchststand wird Ende des 2. Weltkrieges erreicht. Der Plan, in einem ummauerten Gebäude auch Schwerverbrecher aufzunehmen, wird bald wieder aufgegeben. Witzwil bleibt die Strafanstalt für «leichtere Fälle» und ist es heute noch.
Die Strafanstalt wird zum grössten Landwirtschaftsbetrieb der Schweiz und ist es heute noch. Sie besteht aus insgesamt 108 Gebäuden. Im Diemtigtal wird zudem zur Sömmerung des Viehs die Alp Kiley erworben. 1918 wird erstmals in der Geschichte mehr als eine Million Umsatz erwirtschaftet (exakt 1'194'193.75). Jahr für Jahr liefert die Strafanstalt Witzwil unter der Führung von Otto Kellerhals dem Kanton Bern einen schönen Batzen in die Staatskasse ab. Das ist so nicht mehr möglich. Witzwil schreibt heute rote Zahlen.
Die Würdigung des Lebenswerkes von Otto Kellerhals ist unvollständig, wenn wir ihn nur als Agrarunternehmer sehen. Er hat auch im Strafvollzug bahnbrechende Leistungen erbracht und gilt als Pionier. Er betrachtete die Landwirtschaft als eine Lehrmeisterin des Menschen und stellte sie in Witzwil ganz in den Dienst des Strafvollzuges.
Die Bauernarbeit wirkt nicht nur beruhigend auf den Menschen, der sie verrichtet, sie stärkt auch Leib und Geist. In ihr findet der Gestrauchelte sein körperliches und seelisches Gleichgewicht wieder. Das Selbstvertrauen, der Wille und die Freude zur Arbeit werden in ihr am leichtesten wiedergewonnen. Wer sich in Witzwil an die Bauernarbeit gewöhnt hat, findet nach seiner Entlassung leichter wieder eine Beschäftigung im täglichen Leben. Otto Kellerhals macht das Wort des französischen Dramatikers Maurice Donnay «Der Boden ist Ernährer und Erzieher, wer sich auf ihn stützt, der erhebt sich» zu seinem Grundsatz. Dabei bemüht er sich, den Sträflingen diejenige Arbeit zuzuweisen, die ihren Fähigkeiten entspricht.
Ein zentraler Bestandteil seines Führungsstils ist das Vertrauen, das er den Gefangenen schenkt. Und er geht mit einem guten Beispiel voran. Er trinkt und rauch nicht. Er führt nicht nur durch Befehlen, sondern auch durch sein persönliches Beispiel. Er bemüht sich auch intensiv um die Schutzaufsicht und die Entlassenenfürsorge. Die Wiedereingliederung der Strafentlassenen in den Alltag ist ihm eine Herzensangelegenheit. Er sieht in den Gefangenen nicht einfach Kriminelle, sondern stets auch den Menschen.
Sein Vorbild, seine einfache Lebensweise, die hingebende Pflichterfüllung und die Charakterfestigkeit wirken bei den Gefangenen mehr als Worte. Seine Bewunderer sagen, Witzwil sei mehr eine Heilanstalt für Gestrauchelte als eine Strafanstalt. Mit seinen liberalen Ansichten des Strafvollzuges stösst er zu Beginn der 1900er Jahre auf Widerstand. Es ist eine Zeit, in der der Strafvollzug vom Gedanken der Strafe geprägt wird. Das Wort Resozialisierung kennt niemand und Otto Kellerhals ist mit seinen Bemühungen, die Sträflinge zu erziehen, ein Revolutionär, sozusagen ein «Pestalozzi des Strafvollzuges».
Doch er setzt sich mit der ihm eigenen Leidenschaft und Beharrlichkeit durch. Aus ganz Europa, aus Berlin, Prag, ja sogar aus Amerika reisen Spezialisten an, um seinen Betrieb zu besichtigen und von ihm zu lernen. Er wird ein Stargast bei Kongressen zum Strafvollzug und tritt sogar in Washington als Referent auf, um über seine Erfahrungen zu berichten. «Sein» Witzwil ist in Fachkreisen zeitweise die berühmteste Strafanstalt der Welt. Die Universität Zürich verleiht ihm 1933 den Doktortitel ehrenhalber. Am 24. April 1945 endet das Leben dieses Pioniers.