Viviane O. baute sich am Brienzersee ein neues Leben auf, das perfekt zu sein schien. Die 35-Jährige arbeitete an einer Karriere von der Tellerwäscherin zur Millionärin.
Berühmt wurde sie als Boxerin. Angefangen hatte sie mit 25, als ihr Sohn zur Welt kam und sie nach der Schwangerschaft eine Sportart suchte, um ihr Übergewicht (32 Kilo) loszuwerden. Taktisch boxte sie nie besonders gut. Doch mit ihrer unerschrockenen Art schaffte sie es bis ganz nach oben. Mit 31 wurde sie Weltmeisterin im Superfedergewicht (bis 59 Kilo).
Für die Medien war sie interessant, weil sie extravagant und bescheiden zugleich war. Sie fuhr einen roten Sportwagen, einen Chevrolet Camaro, und hielt eine Königspython namens Lucy als Haustier. Gleichzeitig arbeitete sie als Kellnerin und betrieb ein Boxstudio, in dem sie alles selber machte, auch das Putzen. Von ihren Boxkämpfen konnte sie nicht leben.
Das Schweizer Fernsehen und die «Schweizer Illustrierte» dokumentierten ihre Erfolgsgeschichte, die mit einer harten Kindheit in Brasilien begann. Ihr Vater liess sie und ihre Geschwister als Morgenritual kalt duschen und danach Liegestütze machen. Er verbot ihr, einen Freund zu haben, und kontrollierte ihre Jungfräulichkeit. Mit 22 reiste sie nach Europa und landete in Zürich, Baden und Basel und machte das Wirtinnenpatent.
In Basel verliebte sie sich in einen Wirt. Das Glück währte kurz: Hochzeit, Geburt ihres Sohnes, der heute zehn Jahre alt ist, Trennung. Darauf zog sie ins Berner Oberland, wo sie in Interlaken einen Job im Service fand.
Wieder verliebte sie sich in einen Wirt. Er führte das Restaurant Des Alpes in Interlaken. Am 22. Januar 2020 heirateten sie im Hotel Beatus in Merligen. Ihr Eheglück machten sie öffentlich, indem sie ein Bild von der Trauung den Medien schickten.
Dann kam die Pandemie. Die Krise traf Interlaken besonders hart, weil der Ort vom Massentourismus lebt. Die Restaurants blieben auch nach dem Lockdown leer. Boxkämpfe und -trainings waren abgesagt.
Am Anfang hatte das Paar einen Kinderwunsch. Doch er ging nicht in Erfüllung. Am 11. Oktober stand ein Online-Beratungstermin mit einer Fruchtbarkeitsklinik in der Agenda. Viviane O. sagte den Termin aber mit folgender Begründung ab: «Wir haben in Moment schlecht und schwere Zeit.» (Sie sprach gut Deutsch, aber nicht perfekt.) Der Streit hatte schon kurz nach der Hochzeit begonnen. Sie war bei ihm ausgezogen.
Eine Woche später, am 18. Oktober 2020, lag der Ehemann tot in seiner Wohnung. Viviane O. gab an, sie habe ihn am Morgen danach so vorgefunden. Beim Anblick sei sie kollabiert. Mit der Ambulanz liess sie sich ins Spital einliefern.
Doch schon bald geriet sie in den Verdacht, ihren Mann ermordet zu haben. Bis heute streitet sie alles ab. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Seit mehr als einem Jahr sitzt Viviane O. in Untersuchungshaft. Weil sie sich gerichtlich gegen die Haftverlängerungen wehrt, geben Gerichtsurteile Einblick in ihren Fall. Sieben Indizien belasten sie.
Entlastende Indizien gibt es auch. So wurden weder im Chevrolet noch in ihrer Wohnung Blutspuren gefunden.
Viviane O. sagt gemäss den gerichtlichen Zwischenentscheiden, dass jemand anders ihren Mann umgebracht haben müsse. Sie gibt an, in der besagten Nacht hätten mehrere Leute verdächtige Personen in der Nähe gesehen.
Zudem verdächtigt sie einen langjährigen Freund ihres Mannes, der mit ihm zusammengearbeitet habe. Die Männer hätten sich zerstritten. Dieser Freund sei bei ihr im Spital aufgetaucht, obwohl sie ihn kaum kenne. Er habe rote Flecken an den Wangenknochen gehabt, stark geschwitzt und nervös gewirkt.
Aus dem Leben von Viviane O. gibt es allerdings auch Episoden, die in den langen Berichten des Schweizer Fernsehens und der «Schweizer Illustrierten» nicht vorkamen. So soll sie in London zwei Männer in einem Club verprügelt haben, die sie blöd angemacht hätten. Ein Ex-Freund berichtete zudem, sie habe ihn geschlagen.
Die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, Anklage zu erheben. Viviane O. bleibt in Haft, weil die Gerichte von Fluchtgefahr ausgehen. Sie muss mit einer Strafe von weit mehr als zehn Jahren rechnen. Deshalb könnte sie nach Brasilien zurück fliehen. Das Land ist nicht verpflichtet, eigene Staatsangehörige auszuliefern. Viviane O. galt als Schweizer Boxerin, hatte aber nur einen B-Ausweis - ihr Eintrittsticket in ein Leben, das zu perfekt war, um wahr zu sein.
" und kontrollierte ihre Jungfräulichkeit."