Die Piraten gehören zu den Underdogs bei den National- und Ständeratswahlen. Warum er trotzdem antritt, erklärt Marc Wäckerlin, Spitzenkandidat im Kanton Zürich. Zum Interview im Restaurant Cameleon in Glattbrugg erscheint der 44-jährige Winterthurer in kurzen Hosen und barfuss. Bei Entrecôte und Rotwein wird er ernst: Der Schweiz drohe Gefahr durch einen ausufernden Spitzelstaat und Gesetzes-Dschungel.
Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen ein, im Herbst in den Nationalrat gewählt zu werden? Marc Wäckerlin: Aus eigener Kraft dürfte es für die Piraten schwierig werden, an einen Sitz heranzukommen. Ursprünglich wollten wir mit mehreren kleinen Parteien eine Listenverbindung eingehen. Das hat nicht geklappt. Nun sind wir Juniorpartner der Grünliberalen. Hier müssen wir auf Restmandate hoffen. Unsere Chancen sind klein, das muss man realistisch sehen.
bild: zvg
Zur Person
Marc Wäckerlin (44) sitzt seit 2010 für die Piratenpartei im Winterthurer Stadtparlament. Der diplomierte Elektroingenieur (ETH) ist zudem Mitbegründer und Vizepräsident der Piratenpartei Schweiz. Er ist verheiratet und Vater eines Kindes. Er arbeitet als Software-Entwickler bei der Firma SwissSign in Glattbrugg, die digitale Sicherheitszertifikate anbietet.
Wie klein? Üblicherweise holen wir plus minus ein Prozent.
Reicht das für einen Sitz? Vielleicht, wenn ein Restmandat an die Listenverbindung fällt.
Wie geht man mit solchen Aussichten in eine Wahl? Natürlich tritt man an, um zu gewinnen. Der Partei würde das sehr gut tun. Sollte es nicht reichen, gibt es auch andere Wege, politisch Einfluss zu nehmen. Wir werden weiter im Bundeshaus lobbyieren, wie wir das aktuell gegen das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF) und gegen das Nachrichtendienstgesetz (NDG) tun.
Sie sprechen die staatliche Überwachung an. Ist das für die Piraten das drängendste Problem der Schweiz? Ja, denn diesen beiden Gesetze gefährden die Freiheit des Internets massiv. Einzelne Bestimmungen, die diskutiert werden, halten wir für schlicht nicht umsetzbar. Es wäre doch absurd, wie in China oder Weissrussland einen Ausweis vorweisen zu müssen, wenn man in einem Restaurant das WLAN benutzen will. Die Piraten bereiten das Referendum vor.
In Ihrem Wahlprogramm steht Migrationspolitik auf dem zweitletzten Platz und umfasst vier Zeilen. Politisieren Sie hier nicht völlig an der Bevölkerung vorbei? Das ist sicher ein drängendes Thema. Als wir unsere Position zum Thema Migration formulierten, war die Flüchtlingskrise noch nicht so ausgeprägt. Im Grundsatz sagen wir: Der Mensch muss das Recht haben, sich frei zu bewegen, auch über Grenzen hinweg. Voraussetzung ist, dass er im Zielland für sich selbst sorgen kann. Menschen ohne Ausbildung und ohne Sprachkenntnisse haben hier keine Chance.
Und die Flüchtlinge? Das ist ein anderes Thema. Alle anerkannten Flüchtlinge müssen aufgenommen werden. Wenn aber aus Syrien und Eritrea Zehntausende kommen, dann können wir nicht sagen, wir nehmen alle auf.
Das müssen wir auch nicht. Viele stellen in anderen Staaten Asyl. Wir müssen nur jene aufnehmen, die zu uns kommen. Ich persönlich fände hier Kontingente gut, in Absprache mit den anderen Aufnahmeländern. Dann wäre es völlig unproblematisch, auch eine grosse Anzahl aufzunehmen. Auch hier muss man sagen, dass viele dieser Flüchtlinge eine Ausbildung haben und arbeiten könnten, sobald sie genügend Spachkenntnisse haben. Ich denke, dass sich alle Piraten der Forderung anschliessen würden, dass Flüchtlinge arbeiten dürfen und arbeiten sollen. Ich habe auch vorgeschlagen, das Botschaftsasyl wieder einzuführen. Gefährliche Reisen über das Mittelmeer würden so unnötig. Ich denke, dafür könnte ich bei den Piraten eine Mehrheit finden.
«Auch ein muslimischer Kebapstand-Besitzer muss die Kirche mitfinanzieren. Oder ein atheistischer Buchhändler.»
Aber was hiesse das konkret? Alle syrischen Flüchtlinge, die auf unseren Botschaften in Beirut, Amman oder Ankara ein Asylgesuch stellen, müssten aufgenommen werden? Wir müssten ein Kontingent definieren, wie viele wir realistisch aufnehmen könnten. Diese Leute brauchen Wohnungen, einen Job, Schulungen, Sprachkurse. Das alles muss in einem Ausmass geschehen, das die Bevölkerung nicht überfordert. Sonst kippt die Stimmung. Innerhalb dieses Rahmens bin ich dafür, dass die Schweiz so viele aufnimmt, wie sie kann.
Marc Wäckerlin in Winterthur. bild: zvg
Im Unterschied zu Migration führen Sie die Trennung von Kirche und Staat in den Kernthemen Ihres Wahlprogramms. Das ist doch längstens umgesetzt. Oh nein! Eine konsequente Trennung von Kirche und Staat würde die Abschaffung der Landeskirchen und die Streichung aller Begünstigungen aus dem Gesetz bedeuten. Neben der Verfassung müssten allein im Kanton Zürich 75 Gesetze und Verordnungen angepasst werden. Wieso ist uns das wichtig? Jeder soll in der Wahl seiner Weltanschauung frei sein, ob religiös oder nicht, aber der Staat soll nicht einige bevorzugen. Das bedeutet zumindest indirekt immer, dass andere benachteiligt werden. Gleiche Bedingungen für alle. Das heisst, mit Überzeugung arbeiten und nicht mit Staatshilfen.
An welche Begünstigungen denken Sie konkret? Dass der Staat die Mitgliederbeiträge über die Steuer einzieht. Einzelne Kantone bezahlen den Pfarrern das Gehalt. Im Wallis ist es grauenvoll, wie eng Politik und Kirche verknüpft sind.
«Wir haben keinerlei Berührungsängste. Wir können punktuell mit der SP und der SVP zusammenarbeiten.»
Aber ist das wirklich ein drängendes Problem? Man kann ja aus der Kirche austreten, dann ist man von der Kirchensteuer befreit. Als Privatperson können Sie das tun, als Unternehmen nicht. Auch ein muslimischer Kebapstand-Besitzer muss die Kirche mitfinanzieren. Oder ein atheistischer Buchhändler. Hier gäbe es noch viel zu tun.
Schauen wir nach vorn. Angenommen Marc Wäckerlin holt das Restmandat und zieht für die Piraten in den Nationalrat ein. Was würden Sie zuerst tun? Nach einer Eingewöhnungsphase würde ich den Kampf gegen BÜPF und NDG aufnehmen und nach gleichgesinnten Partnern suchen. Und ziemlich sicher würde ich der Grünliberalen Fraktion beitreten, mit denen wir grosse Überschneidungen haben. Im Grossen Gemeinderat Winterthur bilden wir bereits eine Fraktion.
Mit welchen Parteien würden Sie sonst noch zusammenarbeiten? Mit allen, die unsere Anliegen unterstützen. Wir haben da keinerlei Berührungsängste. Wir können punktuell mit der SP und der SVP zusammenarbeiten. Natürlich gibt es Parteien, die weit weg von uns politisieren. Je konservativer, desto weniger Überschneidungen. Grundsätzlich schwierig wird es auch mit dogmatischen Leuten.
Die Spitzenkandidaten der Piratenpartei Schweiz für den Nationalrat 2015: David Herzog, Patrick Stählin, Marc Wäckerlin, Peter Keel (von links nach rechts). bild: zvg
Nach erfolgter Eingewöhn- und Kennenlernphase, was würden Sie dann tun? Meiner Meinung nach müsste man einmal den Gesetzes-Dschungel ausmisten.
Gesetztes-Dschungel? Ja. Alle Gesetze und Verordnungen durchgehen und Unnötiges streichen.
Den Piraten wird ein Hang zum Anarchismus nachgesagt. Ich kann hier nur für mich sprechen, aber ich hege tatsächlich Sympathien für diese Weltanschauung. Die Piraten stehen für Selbstverantwortung, das hat etwas Anarchistisches. Ich habe eben ein positives Menschenbild. Die Menschheit wäre längst tot, wenn sie so dumm wäre, wie gewisse Politiker meinen. Den Staat ganz abzuschaffen, finde ich hingegen übertrieben. Wo Menschen zusammenleben, braucht es eine neutrale Instanz, die gewisse Regeln vorgibt.
Wahlkampagne für die Zürcher Kantonsratswahlen 2015. bild: zvg
Ganz konkret: Welche Gesetze wollen die Piraten streichen? Das Cannabis-Verbot, das völlig sinnlos ist und viel Geld kostet. Ich persönlich finde auch die Anschnallpflicht im Auto überflüssig. Allenfalls sollen die Versicherungen mehr Geld verlangen, wenn sich jemand nicht anschnallt. Aber wieso muss der Staat das vorschreiben und nachher kleinlich Bussen verteilen? Die Leute sollen aus Überzeugung das Richtige tun, nicht weil es ihnen vorgeschrieben wird. Wenn sich jemand selbst gefährden will, ist das sein Problem. Auch alle Sittlichkeitsgesetze gehören abgeschafft. Müssen wir wirklich Nacktwandern verbieten?
Nach den National- und Ständeratswahlen kommen die Bundesratswahlen. Wem würden Sie Ihre Stimme geben? Ich finde die Zauberformel grundsätzlich in Ordnung und finde, dass die SVP Anspruch auf zwei Sitze hat. Sie müsste allerdings einen moderaten, konsensorientierten Kandidaten aufstellen. Die SVP hat diese Leute durchaus, ein Lukas Reimann etwa wäre für die Piraten wählbar. Wem ich meine Stimme sicher nicht geben würde, ist Simonetta Sommaruga.
Warum nicht? Ich bin masslos enttäuscht von ihr. Sie kam als Konsumentenschützerin und macht als Bundesrätin genau das Gegenteil und führt die Überwachung der Konsumenten ein. Sie steht hinter dem BÜPF und dem NDG, das kommt alles aus ihrem Departement.
Noch knapp sechs Wochen bis zu den Wahlen. Wie gut gefüllt ist die Kriegskasse der Piraten? Das ist ein grosses Problem, es ist immer zu wenig Geld da. Wir finanzieren uns hauptsächlich durch Mitgliederbeiträge, hin und wieder erhalten wir Spenden. Die legen wir übrigens ab 500 Franken offen. Diese Transparenz ist uns wichtig, auch wenn uns dadurch wohl die eine oder andere Spende entgeht.
Der Verein Politools lässt dich deine politischen Einstellungen auf der Wahlplattform Smartvote mit denjenigen der kandidierenden Politiker vergleichen. Es empfiehlt sich, nicht Kandidaten mit der grössten Übereinstimmung zu wählen, sondern solche mit grosser Übereinstimmung und intakten Wahlchancen.
Sie meinen, gewisse Leute würden den Piraten gerne grössere Summen spenden, wollen aber nicht, dass das bekannt wird? Von Parteikollegen habe ich gehört, dass es Spender gibt, denen unsere Offenlegungs-Limite zu tief ist. Ich persönlich finde, man könnte dieselbe Limite anwenden, die im Gesetz für Steuerabzüge festgelegt ist. Das sind 10'000 Franken. Möglicherweise liegt es auch am Parteinamen. Man will nicht mit Piraten in Verbindung gebracht werden.
Eine berechtigte Frage. Ist es geschickt, eine demokratische Partei nach Seeräubern zu benennen? Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, wer zuerst war, Pirate Bay oder Piratenpartei. Wer im Internet Sachen kopiert, wird als Pirat bezeichnet, was völlig absurd ist. Irgendwann haben sich einige Leute in Schweden zu erkennen gegeben: Das sind wir. Heute ist es eine internationale Marke. Auf noch eine bürgerliche, demokratische, liberale irgendwas Partei wartet die Schweiz sicher nicht. Ich finde die Marke cool. Sollte sich herausstellen, dass der Name unserem Erfolg im Weg steht, wäre ich aber auch zu einer Änderung bereit.
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Die beliebtesten Kommentare
Jol Bear
20.09.2015 11:43registriert Februar 2014
Wäckerlin offenbart eine gesunde liberale Grundeinstellung, die von Vertrauen in Verstand und Urteilsfähigkeit des Einzelnen zeugt. Keine von oben dirigierte Besserwisserei und Zentralismus, sondern Eigenverantwortung, jeder muss sich seines eigenen Tuns mehr bewusst sein. Die Frage ist, ob er eine solche Haltung im Falle einer Wahl durchziehen kann. Diese positive "anarchistische" Grundhaltung wäre an und für sich nahe bei den Grundsätzen der FDP. Doch diese ist im Lauf der Zeit aufgrund politischer Kompromisse, Lobbyinteressen usw. ziemlich zahnlos geworden.
Fast drei Jahre hab ich mit ihm gearbeitet und in dieser Zeit nur zweimal mit Fussbekleidung gesehen :)
Irgendwie ist der Wille dieser Partei, unbedingt die Schweiz mit gestalten zu wollen, zu bewundern, denn das werden sie wohl nie.
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