Schweiz
Bundesrat

Die SP sucht die Schweizer Sanna Marin

Die SP sucht eine junge Mutter für den Bundesrat – oder: Die Schweizer Sanna Marin

Die finnische Ministerpräsidentin ist jung, cool und Mutter. Sie prägt das Bild einer neuen Generation von Politikerinnen. Und auch bei der SP stellt sich bei der Ersatzwahl von Simonetta Sommaruga die Vereinbarkeitsfrage. Doch das Amt ist für junge Eltern eine Zumutung.
06.11.2022, 04:5710.11.2022, 15:23
Stefan Bühler und Doris Kleck / ch media
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epa10279025 Prime Minister of Finland Sanna Marin during the Nordic Council meeting at the Parliament House in Helsinki, Finland, 01 November 2022. The 74th Session of the Nordic Council takes place i ...
Vorbild einer neuen Politikerinnengeneration: Sanna Marin, finnische Premierministerin.Bild: keystone

Es ist die Chance für die SP, die zuletzt in kantonalen Wahlen geschwächelt hat: Im Dezember kann sie ein neues Mitglied in den Bundesrat wählen lassen. Eine Frau muss es sein, das hat die Partei schon bestimmt. Eine Frau, die bei den eidgenössischen Wahlen nächstes Jahr als Lokomotive dienen soll, so hoffen manche. Eine Politikerin aus einer neuen Generation, die ihre Stars in Finnland, Neuseeland und Deutschland findet.

Sie sind die Ikonen einer jungen, feministischen Politikerinnengeneration: Sanna Marin (37), Premierministerin in Finnland, Jacinda Ardern (42), Regierungschefin aus Neuseeland, und die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock (41). Sie sind jung, erfolgreich und Mütter. Und sie tragen das Thema der Vereinbarkeit von Amt und Familie selbstbewusst in die Öffentlichkeit – über die sozialen Medien, in Interviews und nicht zuletzt auf der politischen Bühne.

Nach der Geburt ihrer Tochter Emma postete Sanna Marin 2018 ein Foto auf Instagram, das sie beim Stillen zeigte. Sie erklärte, dass sie sich mit ihrem Partner den Elternurlaub hälftig geteilt habe: «Ich konnte wieder arbeiten, und er konnte viel Zeit mit unserer Tochter verbringen.» Sie halte es «für sehr wichtig, dass Väter das Recht haben, mehr Zeit mit ihrem Kind zu verbringen, denn es ist eine so einzigartige Phase im Leben».

Prime Minister of New Zealand Jacinda Ardern addresses the 77th session of the United Nations General Assembly, Friday, Sept. 23, 2022, at the U.N. headquarters. (AP Photo/Julia Nikhinson)
Als erste Premierministerin in den Elternurlaub: Jacinda Ardern.Bild: keystone

Jacinda Ardern sorgte ebenfalls 2018 weltweit für Schlagzeilen, als sie nach der Geburt ihrer Tochter sechs Wochen Mutterschaftsurlaub bezog, als erste Premierministerin überhaupt. Annalena Baerbock erklärte als Spitzenkandidatin der Grünen im deutschen Wahlkampf 2021, ihr Mann werde im Fall ihrer Wahl zur Kanzlerin «voll Erziehungszeit nehmen». Und als Russlands Aussenminister Lawrow Baerbock einen Wodka aufdrängen wollte, soll sie das mit dem Spruch pariert haben: «Wenn mittags Wodkatrinken Härtetest ist ... ich habe zwei Kinder geboren.»

Der Glamour verführt sogar die Spitze der SP Schweiz

Die drei Spitzenpolitikerinnen strahlen ein Verständnis der Amtsführung aus, das man sich bisher in der Schweiz nicht vorstellen kann. So sagte Simonetta Sommaruga bei ihrem Rücktritt: «Ich habe in den letzten zwölf Jahren ein Leben geführt, in dem das Amt als Bundesrätin immer oberste Priorität hatte.» Und zwar, «weil es das braucht, in diesem Amt». Kein Wunder hat es bisher noch nie eine Mutter mit Kindern im schulpflichtigen Alter in den Bundesrat geschafft: Bundesrätinnen sind kinderlos – oder bereits Grossmutter.

Von Sanna Marin gibt es derweil nicht nur private Bilder mit ihrer Emma. Sie scheint auch ihre Freizeit in vollen Zügen zu geniessen. Ein Videotape zeigte sie beim Partymachen mit Freunden. Geschadet hat ihr das nicht, im Gegenteil: Als sie deswegen kritisiert wurde, posteten Tausende Frauen weltweit in den sozialen Medien Filmchen von sich beim Tanzen und Feiern. Offensichtlich beeinträchtigt gelegentliches Feiern auch die Geistesgegenwart der Politikerin nicht. Gefragt, was der Ausweg aus dem Konflikt in der Ukraine sei, antwortete Marin kürzlich: «Der Ausweg aus dem Konflikt ist, dass Russland die Ukraine verlässt.» Mit einem trockenen Lachen verabschiedete sie sich vom Journalisten. Das Video ging viral.

Sie strahlen Glamour aus, die Politstars der Linken. Glamour, der auch in der Schweiz auf fruchtbaren Boden fällt. So zählt die Spitze der SP Schweiz zu den Fans der schlagfertigen Finnin, namentlich Co-Präsident Cédric Wermuth. Er postete kürzlich ein Foto mit Sanna Marin und bezeichnete sie als eine der inspirierendsten Politikerinnen unserer Zeit.

Unter Sozialdemokraten gilt sie als Vorbild für eine feministische Politik; wird gelobt für die Modernisierung des Sozialstaats und die Einführung eines paritätischen Elternurlaubs. Vor allem aber widerlege Sanna Marin das Argument, dass nur erfahrene Wirtschaftsführer Länder gut führen könnten. Das stimme einfach nicht. Und so figurieren auf einer internen Liste der SP mit Namen möglicher Bundesratskandidatinnen die Baselbieter Nationalrätin Samira Marti (28), ihre Berner Ratskollegin Flavia Wasserfallen (43) oder die Waadtländer Staatsrätin Rebecca Ruiz (40). Letztere hat jedoch kürzlich erklärt, von einer Kandidatur abzusehen.

In der Schweiz zählt bedingungslose Hingabe – Talent ist zweitrangig

Tatsächlich hat Sanna Marin eine Blitzkarriere hinter sich. Als sie 2019 zunächst Verkehrsministerin wurde, sass sie erst vier Jahre im finnischen Parlament. Zuvor gehörte sie dem Stadtrat von Tampere an. Im Schweizer Politikjargon würde man sagen: ein ziemlich leichter Rucksack für jemanden mit Bundesratsambitionen.

Wird Erfahrung überschätzt? Sie hilft unbestritten – vor allem beim Start. Doch ein einflussreicher Beobachter unter der Bundeshauskuppel sagt auch: Bundesrat kann man lernen. Fast vernachlässigbar sei das Talent. Das falle zu höchstens 20 Prozent ins Gewicht.

Entscheidender ist die Bereitschaft, sich voll in das Amt hineinzugeben. Als zweite Haut bezeichnete alt Bundesrat Didier Burkhalter das Amt. Bundesrat ist kein Job. Bundesrat ist ein Zustand.

Die Arbeitsbelastung ist hoch. Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin und Co-Präsidentin von Alliance F, sagt:

«Das Bundesratsamt ist nicht auf Eltern zugeschnitten.»

Das gelte gleichermassen für junge Mütter wie Väter. Es ist kein Zufall, dass die Kinderlosen im Bundesrat die Mehrheit haben.

In der Schweiz sind Frauen mit Kindern im schulpflichtigen Alter faktisch noch immer vom Bundesrat ausgeschlossen: Zu hoch ist die Erwartung an die Präsenz der Magistratinnen in Kommissionen, an Parteianlässen und bei Medienauftritten. Will die SP das Bundesratszimmer den jungen Müttern öffnen, so brauchen diese Partner, die als Väter deutlich mehr als die Hälfte der Betreuungsarbeit übernehmen – so, wie das Bundesratsgattinnen von 1848 bis in die Gegenwart klaglos taten. Auch jene von sozialdemokratischen Magistraten, wie etwa Alain Berset. Und es braucht im Politbetrieb die Bereitschaft für Reformen, damit Regierungsmitglieder nicht mehr im Klein-Klein des Tagesgeschäfts versinken, sondern die politischen Leitlinien vorgeben.

Auch Väter sagten schon ab wegen der Doppelbelastung

Nicht nur Bertschy sagt: «Die Departemente sind zu gross.» Die Arbeit müsste auf mehr Köpfe verteilt werden. Die Schweiz leistet sich sieben Minister. Sanna Marin hat in ihrer Regierung deren 18. Sie kann mit einer Mehrheit durchregieren, muss sich nicht in jeder (Detail-)Frage eine politische Mehrheit erkämpfen. Es sind dies die Vorteile einer Mehrheitsregierung gegenüber dem Konkordanzsystem.

Kathrin Bertschy, Nationalraetin GLP-BE, spricht waehrend einer Medienkonferenz zur Reform der Verrechnungssteuer, am Dienstag, 23. August 2022 in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Gesucht sei eine Pionierin, die bereit ist, einen hohen Preis zu zahlen: Das sagt Kathrin Bertschy, Nationalrätin GLP und Kopräsidentin von Alliance f.Bild: keystone

Die Frage der Vereinbarkeit des Bundesratsamtes mit einer Familie treibt nicht nur junge Mütter um. Bei den letzten Ersatzwahlen 2018 hagelte es massenweise Absagen von Männern wegen der Familie. Er könne nicht gleichzeitig seinen zwei kleinen Kindern ein guter Vater und dem Land ein guter Bundesrat sein, entschuldigte sich FDP-Ständerat Andrea Caroni. Und CVP-Mann Pirmin Bischof kam zum Schluss, dass seine «Aufgabe als (hoffentlich) guter Vater von zwei kleinen Töchtern» keine Kandidatur verträgt. Manchmal mag die Familie ein Vorwand sein, weil die Wahlchancen gering sind. Doch das grundsätzliche Malaise ist unbestritten.

Gesucht ist also eine Pionierin. Eine junge Mutter, die sich der Herausforderung stellt. Nicht nur das Land zu regieren – sondern auch den Bundesrat von innen zu reformieren. Flavia Wasserfallen, Pascale Bruderer, Evi Allemann und Rebecca Ruiz haben allesamt Kinder im (Vor-)Schulalter. Bertschy wünscht sich, dass bald eine junge Mutter, ein junger Vater in den Bundesrat einzieht. Mit der Unterstützung der Partei und des Kollegiums. Aber sie sagt auch: «Der Preis für diese Pionierrolle ist hoch.» (aargauerzeitung.ch)

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Daniel Jositsch (SP/ZH).
quelle: keystone / lukas lehmann
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175 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nummy33
06.11.2022 08:12registriert April 2022
wird immer schlimmer. Zuerst hiess es „nur“ eine Frau. Jetzt schon weiblich, jung und Mutter. Alle anderen („alte“ und kinderlose Frauen und alle Männer) haben keine Chance. Und die SP will eine soziale Partei sein…..?!
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winglet55
06.11.2022 05:35registriert März 2016
Man kann sich ja auch selbst ein Bein stellen.
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KOHL
06.11.2022 07:29registriert März 2019
Man kann halt nicht alles haben, dass vergessen viele Leute heutzutage. Entscheide haben halt auch Auswirkungen auf das Leben. Eine etwas jüngere Person würde dem Bundesrat aber sicherlich gut tun.
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