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Schweiz: Ignazio Cassis hält sonderbare Rede in New York

Cassis mit sonderbarer Rede in New York – warum ihn UNO-Diplomaten wohl dennoch verstehen

Die Aussprachen im UNO-Sicherheitsrat sind geprägt von Floskeln und mysteriösen Andeutungen. Die erste Ansprache, die Bundesrat Ignazio Cassis seit der Übernahme des Präsidiums durch die Schweiz hielt, fügt sich damit nahtlos in Tradition der New Yorker Redeströme ein.
05.05.2023, 18:19
Renzo Ruf, New York / ch media
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Es war der erste grosse Auftritt des Schweizer Aussenministers an der Spitze des UNO-Sicherheitsrates. Und er war mitunter rätselhaft - selbst in Bern fragten sich hernach Diplomaten, was Ignazio Cassis mit seiner Rede am Mittwoch in New York eigentlich hatte sagen wollen.

Swiss Foreign Minister Ignazio Cassis participates in a Secret Council meeting at United Nations headquarters, Thursday, May 4, 2023. Cassis is currently serving as president of the Security Council.  ...
Ein historischer Moment: Als erster Schweizer präsidierte Ignazio Cassis am Mittwoch eine Sitzung des UNO-Sicherheitsrates in New York.Bild: keystone

An wen appellierte der Bundesrat, als er im grossen Versammlungssaal des Sicherheitsrates sagte: «Das wahre Scheitern wäre, nichts zu tun.» Wem sprach er ins Gewissen, als er verkündete: «Berechenbarkeit, nicht Beliebigkeit, ist der Nährboden für Vertrauen.» Und was meinte er mit der Aussage: «Aber heute der Krieg, immer noch, schon wieder.»

Zerstörte Brücken im UNO-Sicherheitsrat?

Cassis sprach am Mittwoch für 8 Minuten, und ignorierte damit zu Beginn der gegen sieben Stunden dauernden Debatte das Zeitlimit von 3 Minuten. Die Rede, auf Französisch gehalten, fasste noch einmal zusammen, was sich die Schweiz während ihres Gastspieles im Sicherheitsrat zum Ziel gesetzt hat: Die Stärkung multinationaler Organisationen durch vertrauensbildende Massnahmen.

Cassis gab sich aber nicht damit zufrieden. Stattdessen spannte er einen grossen Bogen, der von seiner Jugendzeit in den Siebzigerjahren, als ein Krieg in Europa unvorstellbar schien, bis hin zu den aktuellen Problemen reichte, mit denen sich die Welt konfrontiert sieht.

Ignazio Cassis, Federal Councillor for Foreign Affairs of Switzerland and current president of the United Nations Security Council, left, closes a meeting of the council alongside Pascale Baeriswyl, P ...
Cassis im Gespräch mit der Chefin der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen, Pascale Baeriswyl (rechts).Bild: keystone

Dabei griff der Aussenminister auch auf das oft bemühte Schlagwort vom «Ende der Geschichte» zurück, das den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama kurz vor dem Fall der Berliner Mauer zu einer Berühmtheit gemacht hatte. Cassis philosophierte über das Ende von «wirtschaftlichen Abhängigkeiten» und den Beginn einer «neuen Ära» in den Neunzigerjahren. Als habe es vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine weltweit keine Kriege mehr gegeben.

In seiner Rede bemühte der Aussenminister zwischenzeitlich bekannte, oft verwendete Sprachbilder. Etwa als er sagte, die Schweiz habe sich im Sicherheitsrat den Vorsatz genommen habe, zerstörte Brücken neu aufzubauen. Und wenn wir schon bei Floskeln sind, die mehr Fragen aufwerfen als beantworten - auch davor schreckte der Freisinnige nicht zurück: «Wir müssen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit Lösungsansätzen reagieren, die aus dem 21. Jahrhundert stammen.»

Theater vor der Fernsehkamera

Für langjährige UNO-Beobachter sind mäandernden Phrasen, die das breite Publikum etwas ratlos zurücklassen, nichts Aussergewöhnliches. Stundenlange Aussprachen im Sicherheitsrat sind häufig geprägt von schiefen Sprachbildern, technischen Ausdrücken und diplomatischen Andeutungen, die für uneingeweihte Zuschauerinnen und Zuschauer kaum nachvollziehbar sind.

Die UNO-Insider verweisen darauf, dass die ausländischen Diplomaten in New York stets auch ans heimische Publikum in den Regierungszentralen dächten. Offizielle Sitzungen des Sicherheitsrates bieten deshalb eine ideale Bühne für theatralische Darbietungen. (Dazu passend wetterte der russische UNO-Botschafter am Mittwoch, einmal mehr, gegen das angeblich neonazistische Regime in der Ukraine.) Die eigentliche Arbeit erledige das Gremium deshalb, wenn die Fernsehkamera ausgeschaltet ist.

Mag sein. Aber das unkundige Publikum wird sich dennoch fragen, wie derart langfädige Stellungnahmen die Suche nach Weltfrieden beschleunigen sollen. Cassis selbst tönte am Mittwoch an, dass sich der Fortschritt am UNO-Hauptsitz in New York nur in Millimetern messen lasse. Will heissen: Schiefe Sprachbilder hin oder her, die Suche nach gegenseitigem Vertrauen ist nicht einfach.

Immerhin aber scheint sich die Weltgemeinschaft aufrichtig darüber zu freuen, dass die Schweiz nun endlich auf der Weltbühne angekommen ist. Selbst der russische UNO-Botschafter sagte am Mittwoch: Er sei «sehr zufrieden» über Cassis Anwesenheit in New York und wünsche der Schweiz für die anstehende Präsidentschaft «viel Erfolg». Am Donnerstag schüttelte er dann Cassis fröhlich die Hand, obwohl der Bundesrat zuvor den russischen Einmarsch in die Ukraine in klaren Worten verurteilt hatte.

Verstehe das, wer will. (aargauerzeitung.ch)

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59 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Liebu
05.05.2023 18:44registriert Oktober 2020
Immer schön oberflächlich bleiben.
Viel reden, nichts wirklich sagen.
Ja niemanden treffen, aber alle meinen.
Hinterher kann man dann erklären wen und was man wie gemeint hat.
Die Schweiz, das Fähnlein im Wind, wie wir sie kennen.
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Gummibär
05.05.2023 18:32registriert Dezember 2016
Wer nichts zu sagen hat, der serviert Floskeln.
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einmalquer
05.05.2023 18:26registriert Oktober 2017
"Verstehe das, wer will".

Ich will ja, verstehen tu ich es trotzdem nicht.

Cassis ist halt Cassis und bleibt sonderbar bei seinen Entscheidungen.
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