Mittwoch, 8. September 2021: Der Bundesrat gibt bekannt, dass ab kommenden Montag in Restaurants die Zertifikatspflicht gilt. Die Nachricht aus Bern versetzt einen damals im Kanton Nidwalden tätigen Wirt in Rage. Noch am gleichen Tag erstellt er mit seinem Smartphone ein Selfievideo.
Darin verunglimpft er Gesundheitsminister Alain Berset als «Hure der Pharmaindustrie» und fährt fort: «Jetzt wird nicht mehr politisch geredet. Jetzt reicht es. Komme ja nie in die Innerschweiz. Wenn ich dich wäre, würde ich nicht mehr aus dem Haus gehen. Es ist sehr, sehr gefährlich für dich mittlerweile.» Der Wirt schwadronierte von Personen mit Scharfschützengewehren, die auf den Bundesrat lauern könnten.
Die Tirade, die dem Mann in den Medien den Titel «Wut-Wirt» bescherte, hat nun strafrechtliche Folgen. Die Bundesanwaltschaft hat ihn bei einer Probezeit von zwei Jahren per Strafbefehl zu einer Geldstrafe von 2000 Franken verurteilt - wegen Drohung und übler Nachrede. Die Kosten für Busse und Verfahren belaufen sich auf 800 Franken.
Der Mann schickte das Video per Whatsapp an mindestens zwei Personen weiter, die es auf diversen Social-Media-Plattformen teilten. Es ging viral. In der Drohbotschaft warnte der Wirt Berset auch: «Pass auf, wenn du Trämmli fährst.»
Dabei ist die Schweiz stolz darauf, dass Bundesrätinnen und Bundesräte hierzulande noch in Tram und Bus unterwegs sind. So formulierte es Simonetta Sommaruga, als sie am Mittwoch ihren Rücktritt verkündete. Das sei - die Botschaft des Wut-Wirts lässt grüssen - aber nur die halbe Wahrheit. «Bei vielen Auftritten haben wir heute Personenschutz.» Der Umgang in der Politik sei in den letzten Jahren rauer geworden. Man müsse sich bewusst sein, dass sich das auch auswirke - auf das Klima in unserem Land.
Schon vor einem Jahr sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter in einem Interview mit CH Media: «Man muss ein Stück weit lernen, damit umzugehen, dass sich Bundesrätinnen und Bundesräte heute nicht mehr so frei bewegen können wie vorher.» Sie hoffe, dass es nicht zum Dauerzustand werde. «Wir müssen unsere Kultur verteidigen.»
Zerbröselt in der Schweiz gerade die Kultur, in der sich Parlamentarierinnen, Regierungsräte und Bundesräte frei bewegen können? Tatsache ist: Corona markiert eine Bruchlinie. Davon zeugen zum Beispiel unzählige gehässige verbalen Boxkämpfe in sozialen Medien. Eine Zeit lang reiste kein einziges Mitglied der Landesregierung ohne polizeiliche Begleitung im öffentlichen Verkehr.
Bei öffentlichen Auftritten, etwa Abstimmungspodien, ist Polizeischutz für Bundesräte Standard. Je nach Bedrohungslage definiert das Fedpol Präventionsmassnahmen auch für eidgenössische Parlamentarier oder exponierte Personen der Bundesverwaltung. Das kann eine allgemeine Sicherheitsberatung oder auch Personenschutz.
Ein rauer Ton und gehässige Debatten in der Politik sind kein exklusives Phänomen des 21. Jahrhunderts. Relativ neu ist aber, dass Beschimpfer, Droher und Hasser im digitalen Raum ein Massenpublikum erreichen können. Man dürfe den Effekt sozialer Medien nicht vernachlässigen, sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Dabei würden eher die lauten und aggressiven Stimmen gehört. Und:
Der Austausch unter Gleichgesinnten stimuliere die verbale Grenzüberschreitung.
Das vergiftete Klima schlägt sich auch in der Statistik nieder. Zählte das Bundesamt für Polizei (Fedpol) 2019, im letzten Jahr vor der Pandemie, noch 246 Drohungen gegen Mitglieder des Bundesrats, des eidgenössischen Parlaments und der Bundesverwaltung, so stieg diese Zahl bis im letzten Jahr auf 1215 an. In 120 Fällen erwies sich das Eskalationspotenzial so gross, dass das Fedpol an der Tür der Droher klingelte, um sie auf das möglicherweise strafbare Verhalten hinzuweisen, ihnen einen sogenannten «Grenzziehungsbrief» schickte oder gleich eine Strafanzeige erstattete. «So werden diese Personen aus der digitalen Anonymität in die Realität geholt», sagt eine Fedpol-Sprecherin.
Zwar werden dem Fedpol seit der Aufhebung der Coronamassnahmen weniger Drohungen gemeldet. «Deren Inhalt bleibt aber besorgniserregend», sagt eine Sprecherin. Bereits befeuern andere polarisierende Themen wie die Flüchtlingspolitik oder die Strommangellage das raue Klima. Und als ob es eines Beweises für Sommarugas beklagten «raueren Ton» bedurft hätte, warfen ihr zwei SVP-Exponenten auf Twitter vor, der Gesundheitszustand ihres Mannes sei bloss ein Vorwand für den Rücktritt.
Zurück zum Wut-Wirt: Die «Nidwaldner Zeitung» sprach im letzten September mit ihm. Er habe Berset nicht gedroht, dass er wegen ihm persönlich aufpassen müsse. Er verteidigte sich, das Video sei ohne sein Einverständnis verbreitet worden. Diese Argumente bewahrten ihn nicht vor juristischen Konsequenzen. Im Strafbefehl heisst es, er habe Berset sinngemäss die Tötung in Aussicht gestellt. Und: «Diese Drohung ist geeignet, auch einen besonnenen Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.» (bzbasel.ch)