Kurz vor Weihnachten ist die Reproduktionszahl des Coronavirus in insgesamt acht Kantonen auf über 1 gestiegen. Für drei Kantone hat das Folgen: Neuenburg, Waadt und Wallis mussten am Sonntag ihre Ausnahmen aufheben.
Folgende Kantone haben gemäss dem sonntäglichen Update des BAG einen R-Wert von über 1:
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In Grossbritannien (wo der Biontech-Impfstoff am frühesten zugelassen wurde) sind bereits knapp eine Million Menschen gegen das Coronavirus geimpft, in Israel sind's bereits zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. In der Schweiz startet die nationale Impfkampagne aber erst am 4. Januar.
Experten kritisieren deswegen die Behörden. Thomas Agoritsas, Epidemiologe am Universitätsspital Genf, eine der vielen Stimmen, schrieb etwa auf Twitter: «Wir müssen schneller vorwärtsmachen, dringend.»
Ni les populations, ni la souffrance silencieuse dans les hôpitaux - encore trop présente ce jour de l’an - ne seront très patientes avec un retard substantiel dans les plans vaccinaux. Il faut aller plus vite, urgemment. @BAG_OFSP_UFSP @vernaz_info @Hopitaux_unige
— Thomas Agoritsas, MD PhD (@ThomasAgoritsas) January 1, 2021
Ein Punkt, der kritisiert wird: Die Schweiz habe zu wenige Impfdosen eingekauft. Israel etwa war bereit, einen höheren Preis zu bezahlen und ist deswegen auch in der Lage, mehr Menschen zu impfen.
Ein anderer Punkt, der für Ärger sorgt: Es könnte zwar mehr geimpft werden, nur sind einige Kantone noch nicht bereit dafür, schreibt die NZZ am Sonntag. Der Biontech-Impfstoff ist wegen der grossen Lieferungen und der komplizierten Lagerung eher für Impfzentren statt für Hausärzte geeignet. Bloss: Für Impfzentren fehlt es in mehreren Kantonen an Personal, schreibt die NZZaS.
Im gleichen Artikel wird auf ein weiteres Problem hingewiesen: Die Schweiz setzt eher auf den Impfstoff von Moderna, bestellte dort mehr Impfdosen. Doch Biontech/Pfizer erhielt die Zulassung schneller. Das BAG wiegelt aber ab: «In wenigen Wochen werden wir sehr viel Impfstoff haben.» Falls der Impfstoff von Moderna zugelassen wird.
Ex-FDP-Präsident und alt Ständerat Philipp Müller zeigt sich gegenüber dem «Blick» erzürnt: «Es ist doch ein Witz, eine Impfkampagne zu lancieren, wenn man noch fast keine Impfdosen hat!» Impfstart sei der falsche Begriff: «Das, was der Bund jetzt tut, ist höchstens ein Pilotversuch.»
Und dann kommen noch Probleme mit den IT-Lösungen dazu. Für eine schnelle Impfkampagne ist eine Software, über die man sich für einen Impf-Termin anmelden kann, essentiell. Blöd nur, dass der Bundesrat den Auftrag für eine entsprechende Software-Lösung erst am 17. Dezember vergeben hat. Kurz vor der Zulassung des Biontech-Impfstoffs.
Gleichzeitig wurde im Kanton Bern in der Nacht auf Samstag der schweizweit sechste bestätigte Fall einer Coronavirus-Mutation aus Grossbritannien bestätigt. Es handelt sich um einen neunjährigen Schüler aus London, wie die bernische Gesundheitsdirektion mitteilte. Nach Angaben vom Sonntag wurde das mutierte Virus nun auch in Genf nachgewiesen, und zwar in fünf Fällen. Damit sind es schweizweit bislang elf Fälle.
Die mutierte Version des Coronavirus – Bezeichnung B1.1.7 – könnte aber bereits in der Bevölkerung zirkulieren. Der Kanton Genf hat deswegen das Quarantäneregime verschärft und will weitere weitreichende Massnahmen nicht ausschliessen.
Virologin Isabelle Eckerle, Leiterin des Referenzlabors an der Universität Genf, erhöht derweil den Druck auf die Behörden. Experten wiesen seit dem Bekanntwerden der Mutation darauf hin, dass es eine Verschärfung der Massnahmen braucht.
Ich retweete das gerade nochmal: es gibt keine Ausrede in ein paar Wochen/Monaten, dass die Ausbreitung der neuen Variante #b117 überraschend oder nicht vorhersehbar war, und nicht zu verhindern. Alle Informationen & zu ergreifenden Schritte sind glasklar. #SARSCoV2 #COVID19 https://t.co/Uu6ZlfelRQ
— Isabella Eckerle (@EckerleIsabella) January 3, 2021
Eckerle weist auf Twitter daraufhin, dass die Ausrede der Behörden vom Herbst, man sei überrascht worden, dieses Mal definitiv nicht mehr zieht: «Alle Informationen und zu ergreifenden Schritte sind glasklar», schreibt die Virologin.
Die Mutation trägt im Vereinigten Königreich wahrscheinlich zu den explodierenden Fallzahlen bei. Premierminister Boris Johnson hat am Sonntag angedeutet, dass es in den kommenden Wochen möglicherweise zu härteren Corona-Massnahmen kommen werde.
Nach den Festtagen blickt der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) nicht sehr optimistisch in die Zukunft, was die Wirksamkeit der aktuellen Corona-Massnahmen angeht. Sollten die Zahlen wieder steigen, werden Schulschliessungen zum Thema.
Die Zahlen der vergangenen Tage «lassen einen schon vorsichtig bleiben», sagte Lukas Engelberger, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), am Sonntagabend in der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens SRF.
Am Dienstag und am Mittwoch dieser Woche habe man am ehesten repräsentative Zahlen gesehen: Einmal seien es über 5000, einmal über 4000 neue Ansteckungen gewesen, sagte Engelberger. «Stärkere Massnahmen werden sich nicht vermeiden lassen, wenn wir in den kommenden Wochen wieder hohe Zahlen mit einer steigenden Tendenz haben werden», resümierte er.
Bei den Einschränkungen gibt es jedoch nicht mehr viele Möglichkeiten – ausser etwa bei den Schulen. «Bislang ist versucht worden, die Schule und das Arbeitsleben möglichst zu schonen», sagte Engelberger. Der Spielraum sei aber jetzt ausgeschöpft.
Wenn es nötig sei, weiter Kontakte zu reduzieren und das Arbeitsleben zu verlangsamen, dann müssten auch im Arbeitsbereich und «allenfalls bei den Schulen» Massnahmen ergriffen werden.
Engelberger begründete mögliche Massnahmen an Schulen damit, dass diese «Taktgeberin im Alltag» sei. Wenn die Schule mit Fernunterricht funktioniere und die Schülerinnen und Schüler sich nicht bewegten, würden Kontakte reduziert - auch, weil dadurch auch die Eltern verstärkt zuhause bleiben würden, begründete Engelberger. Es sei aber die «Ultima Ratio», also das letztmögliche Mittel.
Am 30. Dezember hatte der Bundesrat nach einer Bilanz darauf verzichtet, zusätzliche Massnahmen zu ergreifen. Nun will er voraussichtlich am Mittwoch wieder über die Situation und die Massnahmen informieren. Am 18. Dezember hatte die Regierung die Massnahmen im Kampf gegen das Coronavirus verschärft: Diese gelten voraussichtlich bis am 22. Januar.
Der neue Bundespräsident und SVP-Bundesrat Guy Parmelin hat am Sonntag Fehler im Umgang mit der Coronavirus-Krise eingestanden. «Zwischen Juli und September haben wir die Lage unterschätzt», sagte er in einem Interview mit dem «SonntagsBlick».
«Wir dachten, wir könnten das Virus meistern. Gedanklich war es weit weg», führte er aus. Dann kommt aber ein Satz, der so einige Experten verärgte: Neben der Politik seien aber auch viele Spezialisten überrascht gewesen, als die Coronavirus-Fälle plötzlich wieder derart schnell gestiegen seien, meinte Parmelin.
Dominique de Quervain, Professor an der Uni Basel, lieferte via Twitter den Konter: Die Corona-Taskforce warnte bereits im Juli vor einem Anstieg.
+++ 3. Juli 2020 +++
— Dominique de Quervain (@quervain_de) January 3, 2021
National Covid-19 Science Task Force alarmiert über den rapiden Anstieg der Zahl der SARS-CoV-2-Infektionen in der Schweiz: "Wir sehen es als unsere Verantwortung an, zu sofortigem Handeln aufzurufen" pic.twitter.com/Vl1oUYfcx4
Andere Twitter-Nutzer wiesen daraufhin, dass die Presse solche Aussagen nicht mehr zulassen und auf die falschen Aussagen hinweisen soll.
Veilleicht sollte die Presse es einfach nicht mehr durchgehen lassen wenn die Bundesräte sich so einfach rausreden, auf die falsche Aussage hinweisen, Fakten zeigen... https://t.co/lAkxEmn6EX
— Anıl Özdemir, Ph.D. (@anil_oezdemir) January 3, 2021
Einer der lautesten Kritiker des Bundes, Epidemiologe Christian Althaus, kritisierte indirekt auch, dass Wirtschaftsverbänden zu viel Einfluss auf die (fehlenden) Massnahmen im Herbst hatten, gerade in Bezug auf Grossveranstaltungen.
Mit anderen Worten: Zwischen Juli und September haben wir uns nicht für die wissenschaftliche Task Force interessiert. Wir dachten, wir wissen es besser. Gedanklich waren wir bei den Grossveranstaltungen. Auch unsere KollegInnen aus den Wirtschaftsverbänden waren überrascht. https://t.co/l0ioDKJQRW
— Christian Althaus (@C_Althaus) January 3, 2021
Derweil gibt es auch bei den Parteien leichte Veränderungen an den Fronten: Die Grünen und die GLP haben in einem gemeinsamen Brief an den Bundesrat eine Verschärfung der Massnahmen gefordert, berichtet die Sonntagszeitung. Im Vordergrund stehen eine Homeoffice-Pflicht und allenfalls Ladenschliessungen – falls das nicht reicht wird auch ein Shutdown nicht ausgeschlossen.
Unterstützung erhalten die beiden Parteien von der SP. Deren Co-Chefin Mattea Meyer sagt etwa: «Wir fordern schon lange eine Abkehr von der Stop-and-go-Politik, denn das Hin und Her ist auch schlecht für die Psyche der Menschen.»
Von Lockerungen will man auch bei der FDP nichts hören. FDP-Ständerat Damian Müller: «Es ist naheliegend, dass die Fallzahlen in zwei Wochen steigen werden, weil sich über die Festtage viele angesteckt haben. Deshalb sollte der Bundesrat am kommenden Mittwoch auch keine Lockerungen beschliessen.»
Von Lockerungen spricht derzeit nur noch die SVP. Sie verlangt, dass «der Bundesrat und allen voran Gesundheitsminister Alain Berset die Massnahmen gegen Restaurants sowie Sport-, Freizeit- und Kulturbetriebe umgehend aufhebt». Ausserdem sollen die Kantone wieder mehr Freiheiten erhalten. Auf Twitter heisst es von Seiten der SVP: «Die anderen Parteien wollen die Schweizer Wirtschaft endgültig an die Wand fahren. Einzig die SVP fordert eine Corona-Politik mit Augenmass: Risikogruppen schützen, Arbeitsplätze sichern.»
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA.