Mit besorgter Miene blickt Angela Flatzeck (62) auf den Sebastiansplatz, das Herz von Brig. Die Sonne blinzelt durch die Schleierwolken. Das milde Oktoberwetter lockt zum frühen Apéro. Trotzdem bleiben die Stühle auf den Beizenterrassen verwaist. «Es ist beängstigend, wie leer die Stadt ist. Das tut mir richtig weh», sagt die frühere Zivilstandsbeamtin.
Nach 3500 Trauungen fühlt sie den Puls der Stadt wie kaum eine andere Person. Bei einem gemeinsamen Rundgang durch Brig kennt sie praktisch alle beim Namen. «Viele Leute haben Angst und bleiben zuhause», so Flatzeck zum watson-Reporter.
Das Wallis ist mit gegen 900 Covid-19-Infektionen pro 100'000 Einwohnern derzeit der Corona-Hotspot der Schweiz. Die Kantonsregierung hat deshalb über Nacht einen Mini-Lockdown über den Bergkanton verhängt. Schwimmbäder und Kinos bleiben zu. Vereinssport ist tabu. Nur noch zehn Personen dürfen sich treffen. Alle Bars und Restaurants müssen ab Donnerstag jeweils um 22 Uhr schliessen.
Die Massnahme trifft die ohnehin gebeutelte Gastronomie hart. Giuseppe Cantona, Geschäftsführer des Hotel-Restaurant Stockalperhof: «Viele Gruppen haben eben ihre geplanten Essen bereits abgesagt.» Wegen den kürzeren Öffnungszeiten brauche man nun weniger Personal. «Meine grösste Sorge ist aber, dass die neuen Massnahmen nur das Vorspiel für einen richtigen Lockdown sind.»
Die Walliser sind bekanntlich ein äusserst feierfreudiges Volk. Für sie dürfte deshalb die Bar-Sperre ab 22 Uhr besonders einschneidend sein. «Ich vermisse schon die Partys, an denen ich mit meinen Freunden feiern kann», sagt die Schülerin Valentina. Angela erklärt lachend, dass die Festlaune sich bereits im Kantonskürzel widerspiegle. «VS: Das heisst Viel Spass. Viel Seich. Und viel ... ».
Pöstler Josef sitzt nicht mehr so lange in der Beiz wie früher. Mit seinem gestutzen Schnauz und und der aufgestellten Art wirkt er wie ein Klischee-Walliser. Wie lebt es sich im Corona-Hotspot der Schweiz? «Ich habe keine Angst, aber viel Respekt. Wir dürfen die Sache sicher nicht auf die leichte Schulter nehmen», sagt er und rückt seine Sonnenbrille zurecht.
Die Angst geht um im Wallis. Es droht eine massive Wirtschaftskrise. Die Furcht, dass wegen der Pandemie die ganze Wintersaison ins Wasser fällt, ist bei den Menschen spürbar. Denn auch in Brig hängen viele Jobs am Tourismus. «Die Tagesausflüger sind schon jetzt praktisch verschwunden», sagt Flatzeck und blickt auf die ausgestorbene Bahnhofstrasse, die grösste Flaniermeile des Oberwallis.
Als Tourismuskanton ist das Wallis mit seinem breiten Netz an Bergbahnen und der Hotellerie auf Gäste angewiesen. Auch darum hat die Regierung in Sion so rasch so harte Massnahmen verhängt. «Kriegt man die Situation bis Ende November wieder in den Griff, so hat die Wirtschaft und der Tourismus für den Winter eine Chance», sagt der Staatsrat Christophe Darbellay.
Warum hat sich gerade das Wallis zum Corona-Epizentrum der Schweiz entwickelt? Auf die Frage aller Fragen hat auch Josef keine schlüssige Antwort. «Keine Masken, kein Abstand: Viele Leute haben im Sommer hier so gelebt, als gäbe es kein Corona mehr». Was in anderen Teilen der Schweiz aber nicht anders war. Jacqueline, 63 Jahre alt, hat da eine Vermutung: Im Sommer seien sehr viele Touristen ins Wallis geströmt. «Womöglich hat sich deshalb das Virus so rasch verbreitet.»
Zumindest ist Brig bislang punkto Corona mit einem blauen Auge davongekommen. Mit 215 Fällen in Woche 42 ist das Oberwalis weit weniger stark betroffen als das Mittel- und Unterwallis.
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Für Angela Flatzeck ist dies heute nur ein kleiner Trost: «Eigentlich wollte ich ins Brigerbad schwimmen gehen. Aber dieser Spass ist nun vorbei.»