Der Bundesrat könnte in einer Woche fast sämtliche Coronamassnahmen aufheben, auch die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr. Was bedeutet das für die vulnerablen Personen?
Urs Karrer: Wir registrieren täglich immer noch knapp 30000 Neuinfektionen mit dem Coronavirus. Rechnet man die Dunkelziffer dazu, sind es nach Schätzungen drei- bis viermal so viele. Das bedeutet, dass sich in der Schweiz etwa eine halbe Million infizierte Menschen befinden, aber nur 25 bis 30 Prozent davon sind nach einem positiven Test in Isolation. Damit sind vulnerable Personen in Zügen, Bussen oder Trams einem sehr hohen Risiko ausgesetzt.
Einige Kantone wollen alle Massnahmen schon ab dem 17. Februar aufheben, sprechen sich aber für eine Verlängerung der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr aus. Wie beurteilen Sie diese Haltung?
Es gibt einen Konsens bei fast allen Akteuren, die sich zu Massnahmen äussern: Bei einer hohen Inzidenz müssen besonders vulnerable Personen möglichst gut geschützt werden, denn sie sind es, welche nach einer Infektion ein erhöhtes Hospitalisationsrisiko aufweisen. Die Impfung ist dazu ein Schlüsselinstrument, doch sie wirkt nicht bei allen gleich gut. Um die Spitäler zu entlasten und aus Solidarität diesen Menschen gegenüber sollten wir die Maskenpflicht im öffentlichen Raum und natürlich in Gesundheitsinstitutionen bis auf weiteres beibehalten. Auch vulnerable Menschen sollen sich möglichst sicher von A nach B bewegen können.
Wie hoch ist der Sicherheitsgewinn mit Masken im öffentlichen Verkehr?
Gemäss unseren Schätzungen reduziert eine allgemeine Maskentragpflicht in engen Innenräumen das Ansteckungsrisiko 20-200 Mal effizienter, als wenn nur die vulnerable Person eine FFP2-Maske tragen würde. Die Maskenpflicht erhöht den Schutz also signifikant. Zudem handelt es sich um eine wenig einschränkende Massnahme mit geringen wirtschaftlichen Kosten.
Wann wäre es aus Ihrer Sicht vertretbar, die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr abzuschaffen? Vulnerable Menschen müssen sich auch vor und nach einer Pandemie besonders gut vor Infekten schützen.
Das ist schwierig vorauszusagen. Je nach epidemiologischer Entwicklung könnte die Zeit für das Ende der Maskenpflicht Ende März reif sein, vielleicht müssen wir uns aber noch länger gedulden. Aktuell ist etwa jede 20. Person ansteckend. Das bedeutet für vulnerable Personen ein signifikantes Gesundheitsrisiko. Wir sollten warten, bis wir unter 1000 nachgewiesenen Fällen pro Tag liegen, dann wäre nur noch jede 500. Person ansteckend. Dann bewegen wir uns in einem Bereich, in dem sich jeder individuell auf vernünftige Weise schützen kann. An Orten wie Spitälern, Altersheimen und Räumlichkeiten, in denen sich gefährdete Menschen in hoher Konzentration aufhalten, wird es weiterhin Massnahmen brauchen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, diese Leute weiterhin möglichst gut zu schützen.
Trotz rekordhoher Fallzahlen entspannt sich die Lage in den Spitälern. Hat Sie das überrascht?
Ja, wir hatten uns auf eine noch stärkere Belastung vorbereitet. Auf den Intensivstationen sinkt die Auslastung, dort hilft uns, dass Omikron deutlich seltener eine schwere Lungenentzündung mit der Notwendigkeit einer Beatmung verursacht. Bei den Akutbetten kann ich jedoch noch keinen eindeutigen Abwärtstrend erkennen, der Rückgang der Fallzahlen stimmt aber zuversichtlich.
Und dass eine Covid-Erkrankung mit Omikron milder verläuft.
Das ist zwar sehr hilfreich, aber nicht matchentscheidend für das Gesundheitswesen. Entscheidend ist dagegen, dass die Impf- und Boosterquote insbesondere bei den über 60-Jährigen hoch ist und dass sich diese Menschen bisher sehr gut vor einer Ansteckung mit Omikron geschützt haben. Darum können wir die Situation in den Spitälern managen. Damit dies so bleibt, sollten wir als Gesellschaft diesen Schutzschirm weiterhin offenhalten, unter anderem indem wir Masken tragen. (saw/aargauerzeitung.ch)