Schon in zwei Wochen könnte der Bundesrat alle Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus aufheben. Die Zertifikats- und Maskenpflicht wären Geschichte. Während Bundespräsident Ignazio Cassis von einem «Licht am Horizont» spricht, verdunkeln sich in der Wahrnehmung anderer die Perspektiven. Unter dem Hashtag #IchBinRisikoperson kursieren auf Twitter Unmutsbekundungen.
Vor wenigen Tagen hat sich die IG Risikogruppe Schweiz formiert, in der sich Betroffene vernetzen. Das Ende aller Massnahmen bedeute, dass sich besonders gefährdete Personen faktisch freiwillig aus der Gesellschaft aussperren müssten, sagt Eveline Siegenthaler von der IG Risikogruppe. Die Ansteckungsgefahr werde bei einer radikalen Öffnung auch an Orten steigen, die sie gezwungenermassen oft aufsuchen müssten. Die IG erwartet vom Bundesrat einen Plan zum Schutz der Vulnerablen – und spezielle Angebote, die es ermöglichten, zum Beispiel zu Randzeiten Museen oder Schwimmbäder zu besuchen.
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Zur Risikogruppe gehören auch die älteren Personen. Pro Senectute, die grösste Dienstleistungs- und Fachorganisation für Altersfragen in der Schweiz, begrüsst die vorgeschlagenen Öffnungsschritte – auch, weil Senioren damit wieder mehr Aktivitäten offen stünden, wie Sprecher Peter Burri Follath sagt. «Die Situation für die Risikogruppen ist entspannter als zu Beginn der Pandemie.» Burri Follath plädiert gleichwohl für ein Vorgehen in Etappen: «Die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und in Läden, die Artikel des täglichen Bedarfs anbieten, sollte noch längere Zeit aufrecht erhalten werden.» So könne man für vulnerable Personen das Ansteckungsrisiko im öffentlichen Raum auf eine zumutbare Art verringern.
Gefährlich werden kann das Virus auch für gewisse Krebsbetroffene, die aufgrund einer Immunsuppression weniger gut auf eine Corona-Impfung ansprechen und keinen genügenden Schutz aufbauen. «Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass ihr Umfeld geimpft ist und dass Massnahmen wie Maskentragen und Abstand halten nach wie vor eingehalten werden», sagt Stefanie de Borba, Sprecherin der Krebsliga Schweiz. Die Krebsliga rät Betroffenen, grundsätzlich vorsichtig zu sein und eine Infektion mit dem Coronavirus möglichst zu vermeiden. Sie räumt allerdings ein, dass dies derzeit nicht einfach umzusetzen sei.
Dem Virus aus dem Weg zu gehen ist besonders schwierig für all jene, die Kinder im schulpflichtigen Alter haben oder mitten im Arbeitsleben stehen - und beispielsweise im ÖV arbeiten. Deshalb tritt auch der Service-Public-Personalverband Transfair auf die Bremse: Die Aufhebung der Maskenpflicht im ÖV bereits am 17. Februar lehnt er ab, weil er sich um die Gesundheit der Mitarbeitenden an der Kundenfront sorgt. «Um nicht kurzfristig viele weitere Personalausfälle im ÖV zu riskieren, halten wir einen schlagartigen Verzicht auf die Maskenpflicht im ÖV für verfrüht», sagt Bruno Zeller.
Die ÖV-Betreiber selbst wollen sich an der Frage, wann die Maskenpflicht aufgehoben werden soll, nicht die Finger verbrennen - ebenso wenig wie die Detailhändler. Man setze die Massnahmen um, die der Bund vorgebe, heisst es bei Postauto und SBB. Es brauche ein sorgfältiges Abwägen, sagt eine SBB-Sprecherin. «Wenn es die epidemiologische Lage zulässt, ist Aufhebung der Maskenpflicht sinnvoll. Sie erhöht den Komfort der Reisenden.» Umgekehrt sei es für die SBB wichtig, dass nicht viele Mitarbeitende krank würden.
Eine klare Forderung hat der Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, Ueli Stückelberger: Er pocht darauf, dass die Maskenpflicht im ÖV gleichzeitig aufgehoben wird wie im Detailhandel. «Der ÖV muss gleich behandelt werden wie die Geschäfte», sagt er. Die Branche hat in unguter Erinnerung, wie die Maskenpflicht im Sommer 2020 zunächst nur im ÖV eingeführt wurde, nicht aber in Läden oder Theater. Würde diese erneut nur im ÖV gelten, dürfte es noch schwieriger sein, sie durchzusetzen.
Wie gefährlich es in Zügen und anderen geschlossenen Räumen ohne Maskenpflicht werden könnte, erklärt der Aerosol-Spezialist Michael Riediker. Zur Zeit sind immer 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung infiziert. «Von diesen werden sehr viele extrem viele Viren freisetzen.» In Gegenwart eines Angesteckten könne es in fast allen Innenräumen je nach Aktivität und Aufenthaltsdauer kritisch werden, wenn niemand eine Maske trage. Sowohl durch Aerosole wie auch durch Tröpfchenübertragung. Ohne Massnahmen müsse jeder und jede damit rechnen, eine infektiöse Dosis zu erhalten, wenn er oder sie für längere Zeit mit anderen Personen im gleichen Raum sei.
«In kleinen Räumen wie einer Gondelbahn können sich Aerosole sehr rasch zu kritischen Konzentrationen anreichern», sagt der Direktor des Schweizerischen Zentrums für Arbeits- und Umweltgesundheit (SCOEH). Viel schneller als in Verkaufsläden und Theatern. Im Zug und im Flugzeug habe es zwar in der Regel eine leistungsstarke Umluftfiltration. «Doch auch hier kann es ohne Maske bei längeren Reisen kritisch werden», sagt Riediker.
«Ohne Maske hat man im Ruheabteil eines Zuges rund 40 Minuten Zeit, bis man die kritische Dosis erreicht hat.» Sitzt aber eine angesteckte Person im gleichen Abteil, ist diese Zeit kürzer. Ganz kritisch wird es, wenn eine infizierte Person im Zugabteil viel spricht, singt oder gar einen Schlachtruf ausstösst. «Dann würde ich die Flucht in einen anderen Wagen empfehlen», sagt der Aerosol-Experte.
Auch bei einem Wegfall der Maskenpflicht, steht jedem frei, eine Schutzmaske zu tragen. Wer eine gut angepasste FFP2-Maske trage, halte das Risiko einer Ansteckung klein, sagt Riediker. Eine normale Hygienemaske lässt rund 25 Prozent der Aerosole durch. Trägt auch das Gegenüber eine solche Maske, kommen nur noch 6.25% der Partikel durch. «Das ist fast so gut wie eine FFP2-Maske», sagt Riediker. Allerdings werden nach dem Ende der Massnahmen kaum mehr Masken getragen werden. Dann sollten zumindest vulnerable Personen in Innenräumen eine FFP2-Maske tragen.
Der Epidemiologe Marcel Tanner hält fest, dass Omikron hoch übertragbar sei, aber allgemein weniger krankmachend. Bei Risikopersonen mit Vorerkrankungen, vor allem auch solche mit reduzierter Immunkompetenz, müsse man vorsichtig bleiben und mit Impfung und Booster für deren Schutz sorgen. Geimpfte und Genesene seien dagegen viel besser gegen eine Omikron-Erkrankung geschützt.
Da inzwischen etwa 90 Prozent der Bevölkerung immunisiert sind, bleibt noch ein ungeschützter Zehntel. Eine Infektion zu vermeiden, wird in den nächsten Wochen noch schwieriger. Ungeschützte können deshalb auch weiterhin im Spital landen. Wenn die Welle aber ab Mitte Februar wie erwartet abebbt, wird sich die Situation auch für diese Personen etwas entspannen. Noch mehr wenn der Frühling kommt und die Infektionen saisonal nachlassen.
Bei der momentan verstärkten Virustätigkeit sollte man neben dem Risiko der Hospitalisation unbedingt das Risiko von Long Covid, Diabetes und andere Sekundärfolgen besser kennen, sagt Riediker. Bis dahin würde er im Grundsatz empfehlen, «lieber übervorsichtig zu sein, bis man mehr weiss.» (aargauerzeitung.ch)