Diesen Frühling und Sommer gab es nur wenige Corona-Todesfälle – dennoch herrschte oft Übersterblichkeit bei den über-65-Jährigen: Laut Prognosen sollten es in diesem Jahr bis jetzt 40'631 Todesfälle sein, es waren aber bis vorletzte Woche 3862 mehr. Das ist auch leicht mehr als der oberste Erwartungswert von 43'823 und wird deshalb Übersterblichkeit genannt. Pro Woche sind damit bis jetzt rund 100 Personen mehr gestorben, als im Mittel erwartet wurde.
Im Sommer wurde dies mit der extremen Hitze erklärt, die zusammen mit den Corona-Langzeitrisiken für viel mehr Tote gesorgt hat. Nun aber sind die Temperaturen gesunken und dennoch gab es vor drei Wochen noch einmal eine leichte Übersterblichkeit bei den Senioren. Wir haben Gesundheitsexperte Martin Röösli vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut nach weiteren Erklärungen gefragt.
Die Coronafallzahlen sind noch tief, die Hitze ist weg und trotzdem starben bis und mit Woche 37 mehr Personen als erwartet. Was ist los?
Martin Röösli: Es ist schon auffällig, dass die Sterblichkeit den grössten Teil des Jahres und bis jetzt über den erwarteten Zahlen lag. Wirklich wissen, warum das so ist, kann man das erst, wenn die Todesursachenstatistik in eineinhalb Jahren da ist. Plausibel ist, das Covid-19 noch eine Rolle spielt, denn es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass das Risiko zum Beispiel für Herz-Kreislauf-Krankheiten noch ein Jahr nach der Infektion erhöht ist. Selbst wenn der Verlauf mild war.
Offenbar hat das Bundesamt für Statistik (BFS) erwartet, dass die vielen Coronatoten nun teilweise kompensiert werden, weil manche Personen gestorben sind, die bald ohnehin gestorben wären?
Ja, das ist nicht geschehen. Das BFS hatte die erwarteten Zahlen gegenüber dem Vorjahr für 2022 leicht gesenkt, nachdem es zu sehr vielen Todesfällen besonders Ende 2020 gekommen ist und manche der Personen wohl nur noch ein, zwei Jahre gelebt hätten.
Aber Ende September in der Woche 37 starben 1137 Personen bei den über 65-Jährigen, das waren rund 100 mehr als erwartet und gleich viel wie im ersten Pandemiejahr in der Woche 37 – 2019 waren es in dieser Woche nur 1066 Tote.
Ja, das stimmt, wenn man diese Woche vergleicht, können nicht zu tiefe Erwartungen eine Erklärung für die Übersterblichkeit sein. Für einen genauen Vergleich müsste man aber noch das Bevölkerungswachstum berücksichtigen.
Was kommt noch in Frage nebst Corona-Langzeitrisiken?
Man hat auch schon gesehen, dass grosse Temperaturschwankungen die Sterblichkeit erhöhen. Es ist also nicht nur Hitze, sondern der Temperaturwechsel an sich, der insbesondere ältere Menschen belastet.
Es geht also nicht darum, dass sich die Leute wieder mehr drinnen aufhalten und die Atemwegsinfektionen zunehmen?
Diesen Effekt gibt es auch, der kommt aber erst jetzt zum Tragen, bis Mitte September wohl noch nicht. Es ist aber Stress für den Körper, wenn die Aussentemperatur plötzlich sinkt oder steigt. Bei der Kälte weiss man zudem, dass zum Beispiel arteriosklerotische Krankheiten sich verstärkt zeigen, das heisst, die Blutgefässe verengen sich in der Kälte. Die kältebedingte Sterblichkeit ist deshalb oft sogar noch ausgeprägter als die hitzebedingte. Aktuell ist es aber dafür eigentlich noch nicht genug kalt. Es ist insgesamt schwierig zu sagen, warum die Sterblichkeit bis in den September so hoch war. Covid-19-Langzeitrisiken sind am wahrscheinlichsten.
Wie lange werden sich die Covid-19-bedingten Risiken auf die Gesundheit auswirken?
Die längsten Studien, die das untersucht haben, decken einen Zeitraum von einem Jahr ab, wo ein erhöhtes Risiko zu sehen ist. (Link zu Studien hier und hier.)
Kennt man das auch von anderen viralen Krankheiten?
Ja, von der Grippe kennt man das auch, aber ich weiss nicht, wie ausgeprägt es ist, das wissen die Infektionsepidemiologen und Virologinnen besser.
2020 betrug die Übersterblichkeit 11 Prozent oder 7500 Personen. Eine eindrückliche Zahl, falls das so weitergeht.
Ja, das wird sich auf die statistisch erwartete Lebenserwartung der jetzt lebenden Seniorinnen und Senioren durchschlagen. Diese sank schon nach dem Jahr 2020 bei den Männern um 0.9 und bei den Frauen um 0.5 Jahre. Das ist viel.
Impfskeptiker mutmassen, auch die Impfung habe für mehr Todesfälle gesorgt. Was sagen Sie dazu?
Es ist sehr unplausibel. Im Gegenteil, wir konnten bereits zeigen, dass es in jenen Kantonen der Schweiz, wo die Impfquote niedrig ist, zu einer grösseren Sterblichkeit gekommen ist. Ich vermute, dass das auch jetzt wieder so ist, wo wir aus der akuten Phase raus sind und es um Langzeitrisiken geht.
Zwei Winter lang fiel die Grippe sozusagen aus. Rechnen Sie jetzt mit einer besonders heftigen Grippewelle – und noch mal Übersterblichkeit?
Ich erwarte noch einmal eine Coronawelle und primär deswegen eine erhöhte Sterblichkeit. Inwiefern die Grippe eine Rolle spielen wird, hängt von den Massnahmen ab: Mit Masken und vielen Tests in den letzten beiden Wintern konnte die weniger ansteckende Grippe stark eingedämmt werden. Das könnte wieder passieren.
Sollten wieder Massnahmen ergriffen werden?
Ich persönlich finde: Man sollte in Menschenansammlungen in Innenräumen wieder Maske tragen. So habe ich es bis jetzt gehalten und blieb gesund. Covid-19 hat nach wie vor das Risiko einer mühsamen Geschichte, selbst wenn man genesen ist. Ich werde mich auch bald zum 4. Mal impfen lassen. Als Einzelner hat man relativ viel in der Hand, um sich zu schützen.
Wie wichtig wären Luftpartikelfilter an Schulen?
Ich fände sie sehr hilfreich, weil die Kinder die Infektionen in die Familien tragen. Und weil die Luftqualität auch sonst teils schlecht ist in den Zimmern. Aber da tut sich wenig. Und wenn in den kommenden Monaten Energie gespart werden muss, wird womöglich noch seltener gelüftet.
Wie sehen Sie die aktuelle Lage als Gesundheitsexperte, der nicht nur Viren im Fokus hat?
Ich vermisse eine ausbalancierte Diskussion darüber, was zumutbar ist und was nicht. Sie ist zu sehr polarisiert: Weil man immer gleich vom einen oder anderen Lager angegriffen wird, will auch kaum noch jemand reden. Die Eigenverantwortung hat einen schlechten Ruf bekommen. Ich bin immer noch überzeugt, dass man stärker an die Solidarität und Eigenverantwortung appellieren sollte und so einiges erreichen könnte.
Ich beobachte selber, dass je mehr wir Pflegenden die Patient:innen einerseits überwachen und auch gemäss ihren Bedürfnissen pflegen und betreuen können, sie sich schneller stabilisieren und Krisen überleben.
2. Es soll jeder selbst eitscheiden ob man eine Maske tragen will. Bitte keine Massnahmen mehr.
Unfälle werden zwar nicht „nachgeholt“. Diese sind daher kaum relevant.
Aber Infektionen - egal welcher Art - treten alle wieder auf. Und auf Menschen, bei welchen diese die letzen 2 Jahre verhindert wurden.
Ein gewisser Nachholeffekt könnte daher m.M.n durchaus mitspielen. Todesfälle können nunmal bestenfalls verschoben, niemals aber verhindert werden.
Egal was wir tun, irgendwann pendeln sich die Todesfälle wieder auf „normal“ ein.