Das Gebäude ist unscheinbar. Ein verwaschenes Grün ziert die Aussenfassade des Clubs Soprano in Urdorf ZH. Der Lärm der Autobahn, nur wenige Meter entfernt, weht herüber. Im Aussenbereich fläzen sich zwei junge Frauen im Schatten auf einer Rattanlounge. Sie rauchen Zigaretten und blicken neugierig in Richtung der ankommenden Reporterin.
Wäre es ein normaler Donnerstag, würden sich die Frauen womöglich bald auf ihre abendliche Schicht vorbereiten. Sie würden sich schminken und frisieren, hochhackige Schuhe um ihre Knöchel schnüren und sich leicht bekleidet bei Cluböffnung an den schummrig beleuchteten Bartresen setzen. Doch es sind keine normalen Zeiten. Der Bartresen im Innern des Clubs ist versperrt mit hochgestapelten Stühlen. Und den wenigen Sexarbeiterinnen, die freiwillig oder gezwungenermassen im Club Soprano hängen geblieben sind, bleibt nur eines übrig: Zuwarten.
Dino, Mitglied der Club-Geschäftsleitung, 25-jährig, gross gewachsen, schwarze Kleidung, grüsst mit einem kurzen Nicken. Sein Händedruck zu Nicht-Corona-Zeiten wäre ordentlich gewesen. Mit einer kurzen Geste winkt er ins Innere des Clubs, lädt zu einem Rundgang.
Die rund 2500 Quadratmeter des Etablissements sind seit nun mehr als einem Monat unbenutzt. Die zahlreichen Zimmer mit den roten Samtsofas, den runden Betten und gläsernen Duschkabinen stehen leer. In den spärlich belichteten Gängen stehen Putzwagen und Staubsauger. Einzig in den kleineren Zimmern und Aufenthaltsräumen für die Sexarbeiterinnen herrscht etwas Betrieb. In der Küche verspeisen drei Frauen einen Nachmittagssnack.
«Es fühlt sich an wie im Ferienlager, einfach ein bisschen langweiliger», schmunzelt die 27-jährige Mirella. Sie ist ursprünglich aus Rumänien. Die Rezeptionistin lebt aber seit Längerem in der Schweiz.
Nach Rumänien zurückzukehren sei für sie keine Option gewesen. «Was will ich in Rumänien? Dort darf man keinen Schritt mehr aus dem Haus machen. Und ich wüsste nicht, wann ich wieder in der Schweiz arbeiten könnte.» Bis am 15. Juni gelten schweizweit strenge Einreiseregelungen. Ja, Geld verdiene sie derzeit nicht, so Mirella. Doch es gehe ja allen gleich.
Die Corona-Krise trifft die Sexarbeiterinnen hart. Der Umsatz des Sexgewerbes beläuft sich Schätzungen zufolge auf eine halbe bis zu einer Milliarde Franken pro Jahr. Doch nur der geringste Anteil geht an die Sexarbeiterinnen selbst. Seit dem 16. März bleibt ihnen gar nichts mehr. 75 Prozent der Frauen sind Migrantinnen. Jene, die konnten, versuchten in ihre Heimatländer zurückzureisen. Doch nicht alle schafften es.
«Kurz nach dem schweizweiten Lockdown wurden wir mit Anfragen von Frauen überflutet», sagt Beatrice Bänninger. Sie ist die Geschäftsführerin der Zürcher Stadtmission, die auch die Beratungsstelle für Sexarbeitende Isla Victoria betreibt. Allein in den ersten zehn Tagen nach dem Lockdown hat Isla Victoria zusammen mit dem Team Flora Dora rund 100 Rückreisen und finanzielle Nothilfe für Sexarbeiterinnen organisiert, Kostenpunkt 30'000 Franken. «Normalerweise haben wir ein kleines Budget für Nothilfe. Doch das reichte bei weitem nicht», so Bänninger. Kurzerhand zückte sie ihre eigene Kreditkarte. «Wir mussten schnell handeln und hatten keine Zeit, um auf Geldsprechung der Politik zu warten.»
Unterdessen hat das Sozialamt des Kantons Zürich 50'000 Franken Unterstützungsgelder gesprochen. Ein grosser Teil der Ausgaben der Zürcher Stadtmission konnten bereits gedeckt werden. «Positiv überrascht» gewesen sei sie über diese unbürokratische und schnelle Nothilfe, so Bänninger. «Das Sexgewerbe wurde von Anfang an von der Politik genauso ernst genommen wie andere Branchen auch. Das stimmt uns zuversichtlich.» Doch wie bei anderen Branchen auch wird sich die finanzielle Situation auch im Sexgewerbe zuspitzen.
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Viele der Sexarbeiterinnen, die zuvor in Clubs gearbeitet haben, konnten bleiben. Im Club Soprano in Urdorf wohnen derzeit noch sieben Frauen. Sie alle schafften es nicht mehr rechtzeitig über die Grenze. Normalerweise müssten sie selbst für Kost und Logie aufkommen. Nun können sie kostenfrei im Soprano bleiben.
«Die Betriebe stehen vor grossen wirtschaftlichen Herausforderungen. Wir gehen davon aus, dass die Frauen nicht ewig kostenlos in den Clubs wohnen können», sagt Bänninger. Doch es ist nicht nur die Unterkunft. Das Geld fehlt auch für ganz alltägliche Dinge: Lebensmittel, Hygieneprodukte, Handy-Abos.
Auch hier unterstützt die Beratungsstelle Isla Victoria die Sexarbeiterinnen. Sieben prall gefüllte Einkaufstaschen mit Lebensmitteln und je 200 Franken Nothilfegeld brachte Grazia Aurora nach Urdorf ins Soprano. Aurora kümmert sich als psychosoziale Beraterin und Pflegefachfrau um die Sexarbeiterinnen. Seit Beginn des Lockdowns sei sie ununterbrochen im Kanton Zürich unterwegs. Sie tingelt von Bordell zu Cabaret und versucht zu helfen, wo sie kann.
«Wir sind froh über die Grosszügigkeit von Clubs wie dem Soprano», sagt Aurora. Würden sie die Frauen nicht kostenlos aufnehmen, würden diese auf der Strasse landen. Dino erwidert Auroras Lob mit ernster Miene. «Wir sind wie eine grosse Familie. Die Frauen einfach auf die Strasse zu stellen, kam für uns nicht in Frage.» Solange es irgendwie finanziell zu stemmen sei, werde man den Frauen ein Dach über dem Kopf bieten. Noch hat das Soprano keinen Kredit beantragt. Die festangestellten Mitarbeitenden wurden für Kurzarbeit angemeldet, die Lokalmiete wird von Reserven bezahlt. «Je länger der Club geschlossen bleibt, desto mehr bezahlen wir aus der eigenen Kasse», so Dino.
Der Blick in die Zukunft ist ungewiss. Im Lockerungsfahrplan des Bundes wurde das Sexgewerbe nicht erwähnt. Und auch Dino weiss, dass es noch länger gehen könnte, bis der Club seine Tore wieder öffnen darf. «Solange man Schutzmasken tragen muss, macht es wohl kaum Sinn, zu öffnen. Niemand geht in ein Bordell mit Schutzmaske und hält die zwei Meter Distanzregel ein», so der 25-Jährige. Und solange die strengen Einreisebestimmungen gelten, könne er den Betrieb nur begrenzt hochfahren. «Normalerweise haben wir 27 Frauen, die im Club arbeiten. Können diese nicht mehr in die Schweiz einreisen, wird es sowieso schwierig, den Club zu öffnen.»
Auch die Geschäftsführerin der Zürcher Stadtmission stellt sich auf eine längere Durststrecke ein. «Wir können das wirtschaftliche Ausmass der Corona-Krise noch gar nicht fassen. Das wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen», so Bänninger. Für sie ist klar: Es braucht weitere Gelder von Stadt und Kanton. Und es brauche endlich eine klare Definition der arbeitsrechtlichen Situation von Prostituierten. Denn noch ist oft unklar, ob Sexarbeiterinnen arbeitsrechtlich als Arbeitnehmende oder Selbstständigerwerbende zu betrachten sind. Es sei im Einzelfall zu beurteilen, ob ein Arbeitsvertrag vorliege oder nicht, schreibt die Zürcher Kantonsregierung 2019 in einer Stellungnahme zum Sexgewerbe.
Das Problem dabei: Verschiedene Stellen wie die SVA, das Migrationsamt oder das RAV gehen von unterschiedlichen Definitionen aus. Genau da liege das Problem, so Bänninger. In der Krise würden sich diese systemischen Probleme noch krasser zeigen. Zum Teil sei völlig unklar ob, die Sexarbeiterinnen in Clubs und Salons ein Recht auf Unterstützungsbeiträge hätten oder nicht. «Der Ämtergang ist kompliziert, der Administrationsaufwand gross. Viele der Frauen stehen zwischen Stuhl und Bank.» Nach der Corona-Krise sei es an der Zeit, diese rechtlichen Lücken endlich zu füllen.
Für Mirella und die weiteren Frauen im Club Soprano wird sich so schnell nicht viel an ihrer Situation ändern. Sie müssen abwarten. Und hoffen, dass es nicht zu einer zweiten Coronavirus-Welle kommt. Bis dahin sitzen sie in Urdorf fest. Immerhin seien sie in guter Gesellschaft, meint Dino zum Abschied. «Wenn uns die Decke auf den Kopf fällt, gehen wir in den Garten, schmeissen den Grill an und trinken eine Flasche Wein.» Die Frauen nicken lächelnd zum Abschied. Eine von ihnen wedelt mit einem federverzierten Katzenspielzeug und der bengalische Kater Soprano, der dem Club den Namen gab, setzt zum Angriff an.
Domimar
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