«Manchmal», erzählt mir meine Grossmutter, «manchmal erinnert uns die aktuelle Coronakrise an die Zeit während des Zweiten Weltkrieges». Wir treffen uns auf dem Bauernhof meiner Grosseltern und sitzen auf der Veranda, zwei Meter sichere Entfernung, keine Umarmung, kein Händedruck, kein Körperkontakt.
Mein Grossvater (Jahrgang 1935) ist während und nach dem Zweiten Weltkrieg im Kanton Aargau aufgewachsen. Meine Grossmutter wurde mitten im Krieg geboren. 75 Jahre nach Kriegsende tauchen sie noch einmal in ihre Vergangenheit ein, in eine Schweiz, die vornehmlich auf dem Land lebte und tagelang an einer Angina litt – bis das Penicillin entdeckt wurde.
Beginnen müssen wir aber in der Gegenwart, in der sich die Schweiz «in der grössten Krise befindet, wie sie es in der Geschichte der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat». So hat es Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga formuliert. Und auch meine Grosseltern sehen gewisse Parallelen.
Fast alle Aspekte des täglichen Lebens haben sich in den letzten 75 Jahren verändert. Viele davon sind in Geschichtsbüchern für die Ewigkeit festgehalten – einige Details bleiben in den Erinnerungen von Zeitzeugen.
Gut vier Millionen Einwohner zählte die Schweiz, als im Jahr 1945 der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Es war ein Land, in dem zwei von drei Personen auf dem Land lebten. Darunter auch meine Grosseltern, die beide auf einem Bauernhof aufwuchsen. Das Leben in der Stadt bekamen sie damals selten zu sehen.
1945 gab es zwar sehr wohl Personen, die keine regelmässigen Kirchenbesuche machten. Auf dem Papier konnte man sie allerdings in jedem Fall einer Religion zuordnen. Heute gehört rund ein Viertel der Bevölkerung keiner Religion an – Tendenz steigend.
Die Familienplanung und damit verbunden die Hochzeit wurde früher in Angriff genommen als es heute bei vielen Paaren der Fall ist. Gründe dafür waren einerseits, dass die Ausbildung damals weniger lange dauerte (wenn sich denn überhaupt die Gelegenheit zu einer ergab) – andererseits führte die von der Kirche verlangte Enthaltsamkeit ebenfalls dazu, dass Paare jung heirateten.
So heiratete man 1945 im Schnitt noch mit 26 Jahren (Ehefrau), respektive 29 Jahren (Ehemann). In den 1970er-Jahren ist dieser schweizweite Schnitt sogar nochmals gesunken. Heute sind beide Ehegatten im Schnitt über 30 Jahre alt, wenn sie zum ersten Mal heiraten.
Wer früher heiratet, hat länger Zeit, um Kinder zu bekommen. Viele Kinder. Grossfamilien mit fünf oder mehr Kindern gibt es heute kaum mehr – noch vor 75 Jahren war das keine Seltenheit.
Das Kriegsende war der Auftakt einer geburtenreichen Zeit – die zwischen 1946 und 1964 Geborenen werden heute Baby-Boomer genannt und sorgten jüngst für Schlagzeilen.
Dass man heute kleinere Familien hat, widerspiegelt sich auch in der Geburtenziffer. Gegen Ende des zweiten Weltkrieges brachte eine Frau in der Schweiz noch durchschnittlich 2,6 Kinder auf die Welt. Heute liegt der Wert bei etwa 1,5 Kindern pro Frau.
Sobald die vielen Kinder erst mal grösser waren, gab es immer weniger Platz im Haus – schliesslich hatte man oft auch noch Grosseltern zuhause. Mit dem religiösen Hintergrund der Gesellschaft wurde eine gemeinsame Wohnung mit dem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin bekanntlich erst nach der Hochzeit Thema.
Trotz der damals noch viel bedeutenderen Landwirtschaft war die Industrie vor 75 Jahren der grösste Arbeitgeber. Über die Jahre wandelte sich die Schweiz aber in eine Dienstleistungs-Gesellschaft. Rund drei Viertel aller Erwerbstätigen sind heute in diesem Sektor beschäftigt.
Interessant dabei: Parallel zum Ausbau des Dienstleistungssektors entwickelte sich die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt. Anfangs bildeten Dienstbotinnen in Privathaushalten sogar den allergrössten Teil des Dienstleistungssektors, später kam der Detailhandel dazu – und auch dort wurden anfangs vorwiegend Frauen eingesetzt.
Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wuchsen aber auch das Gastgewerbe, die Post, Telekommunikation und die öffentliche Verwaltung.
Und: Eines der weltweit besten Gesundheitssysteme wurde aus dem Boden gestampft – heute sind über 400'000 Personen im Schweizer Gesundheitswesen tätig.
Auf dem Land waren 1945 die allermeisten Menschen Selbstversorger und bauten Gemüse, Salat und Kartoffeln an, während man sich in den Städten auf Märkten eindeckte.
Riesige Gemüseabteilungen, wie man sie aus den heutigen Läden kennt, gab es nicht. Bananen, Avocados und andere Importprodukte fanden erst Jahrzehnte später den Weg in unsere Läden.
Um die knappen Güter wie Eier und Milch, aber auch Kleider und Brennstoff fair an die Bevölkerung zu verteilen, führte der Bund während des Zweiten Weltkrieges Rationierungsmarken ein.
Deutlich gestiegen ist in den letzten 75 Jahren der Fleischkonsum. Heute isst eine Person in der Schweiz fast ein Kilogramm Fleisch pro Woche, 1945 war es noch nicht einmal die Hälfte.
Lange war das Autofahren aus finanziellen Gründen der obersten Gesellschaftsschicht vorbehalten. Die Krise in den 1930er-Jahren verteuerte die Sache zusätzlich. Erst mit dem Konjunkturaufschwung der 1950er-Jahre begann die Massenmotorisierung. Über die damals noch ungeteerten Strassen ohne jede Signalisation rollten Jahr für Jahr mehr Autos.
Während im September 1945 nur gerade 18'279 Personenwagen eingelöst waren, sind es heute 4,6 Millionen. In der Schweiz besitzt heute also mehr als jeder Zweite ein Auto – inklusive Kindern.
Nicht nur wegen, aber auch dank der Motorisierung hat der Klimawandel in den letzten 75 Jahren seine Spuren hinterlassen. So ist es beispielsweise in Bern heute im Schnitt fast zwei Grad wärmer über's ganze Jahr gesehen.
Auch in den höheren Lagen ist es wärmer geworden: Im Säntis war es im vergangenen Jahrzehnt jeweils noch knapp unter Null im Jahresschnitt. In den 1940er-Jahren war es im Jahresschnitt noch -1,8 Grad Celcius.
Vor 75 Jahren erlebte die Schweiz ein aussergewöhnlich warmes Jahr – und das trotz eines kalten Jahresstarts. Im Witterungsbericht des Jahres 1945 von MeteoSchweiz liest sich: «Der Januar zeichnete sich allgemein durch ungewöhnlich niedrige Temperaturen aus. [...] Die Niederschläge sind im Mittelland fast ausschliesslich als Schnee gefallen.»
In Bern fiel in den 1940er-Jahren im Schnitt 70,9 cm Schnee über den ganzen Winter. In den letzten 10 Jahren waren es noch knapp 60 cm – der schneelose Winter, der direkt hinter uns liegt, noch nicht mit eingerechnet.
Ebenfalls im Witterungsbericht vermerkt sind «mehrere bedeutende Lawinen» in der Zentralschweiz.
Als «Tag der Befreiung» wird der heutige 8. Mai in vielen europäischen Ländern gefeiert. Damit gedenkt man der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Wer diesen 8. Mai 1945 miterlebt hat, verbindet damit viele Emotionen.
Mir ist aufgefallen, das es früher für sehr vieles ein riesiges Volksfest gab.
Ich sammle alte Ansichtskartenvon meiner Region, weil ich mir einfach gerne ein Bild mache, wie es da wo ich wohne mal ausgesehen hat.
Auf einem Foto sieht man das ganze Dorf auf der Strasse, als ein Militärregiment eine Parade gemacht hat.
Noch besser find ich aber, dass das ganze Dorf ein Fest gemacht hat, als auf zwei Wagen mit Pferdegespann die neuen Glocken für die neue Kirche herangekarrt wurden.😊