Für die deutsche Journalistin und Buchautorin Birgit Kelle ist Provokation das Mittel der Wahl. Und damit treibt sie regelmässig viele Berufskolleginnen und grosse Teile der deutschen Feministinnenszene zur Weissglut.
So beispielsweise im Januar 2013, als Deutschland unter dem Hashtag #Aufschrei über Sexismus und sexuelle Übergriffe diskutierte. Tausende Frauen beschrieben dabei in den sozialen Medien ihre eigenen Erfahrungen mit Sexismus und mit übergriffigen Männern.
Ausgelöst worden war die Debatte durch einen Artikel der jungen «Stern»-Journalistin Laura Himmelreich. Darin beschrieb sie, wie FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle am Rande eines Parteitreffens an einer Bar ihr gegenüber aufdringlich geworden ist. Unter anderem hatte er ihr in den Ausschnitt geschaut und den Anblick mit den Worten kommentiert: «Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.»
Die Reaktion von Provokateurin Birgit Kelle? Sie veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel: «Dann mach doch die Bluse zu!» Sie wolle als Frau nicht in einer Welt leben, «in der ich als armseliges Opfer betrachtet werde und Männer vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, lieber gar nichts mehr sagen», kommentierte sie die #Aufschrei-Debatte.
Auch jetzt, fast auf den Tag genau acht Jahre nach ihrem «Blusen»-Artikel, ist Birgit Kelle dank eines provokanten Beitrags wieder die Aufmerksamkeit vieler deutscher Feministinnen und LGBT-Vertreter auf sicher – und deren Ärger. Auslöser ist ein Gastbeitrag unter dem Titel «Jenseits des Regenbogens», der letzte Woche in der NZZ erschienen ist. Wegen des Artikels ist in Deutschland Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen Kelle eingereicht worden.
"Ausgerechnet in Deutschland hat man die adäquate medizinische Behandlung dieser Kinder kriminalisiert. Angesichts rasant steigender Fallzahlen möchte man von gesetzlich verordneter unterlassener Hilfeleistung sprechen." @Birgit_Kelle via @NZZ #Trans https://t.co/JrLsm0fS4W
— Birgit Kelle (@Birgit_Kelle) January 28, 2021
Ausgangspunkt von Kelles Kommentar ist ein Urteil eines Gerichts in London vom Dezember 2020. Dieses hatte der Klage einer jungen Frau, Kiera Bell, gegen eine Klinik Recht gegeben. Die Frau identifizierte sich im Alter von 16 Jahren als Mann und äusserte den Wunsch nach einer medizinischen Behandlung. Sie erhielt in der Folge von der Klinik sogenannte Pubertätsblocker. Später bereute sie diesen Entscheid.
In ihren frühen Zwanzigern begann Bell wieder als Frau zu leben und befürchtete, aufgrund der Behandlung unfruchtbar zu sein. Das Gericht folgte Bells Argumentation, dass Ärzte aufgrund der «experimentellen Natur» und der weitreichenden Folgen dieser Behandlungsmethode unter 18-Jährigen nur mit gerichtlicher Zustimmung Pubertätsblocker verschreiben dürfen sollten.
In ihrem NZZ-Gastkommentar nimmt sich Kelle mit spitzer Feder die «weltweiten Trans-Lobby-Gruppen» mit ihrer «Pippi-Langstrumpf-Ideologie» vor: «Jeder soll sein, wie er möchte, und niemand soll ihn davon abhalten», sei deren Ziel. Sollte sie sich diese Trans-Lobby durchsetzen, so könne sich jeder paaren und lieben, «egal mit wem und wie vielen, und wenn ihm unwohl wird, ändert er eigenmächtig seinen geschlechtlichen und damit auch emotionalen Zustand, um sich in Endlosschleife neuem Glück zuzuwenden».
Der polemische Gastkommentar hat eine der meinungs- und reichweitenstärksten linken deutschen Feministinnen auf den Plan gerufen: die Kolumnistin und Autorin Sibel Schick, die unter anderem für das feministische «Missy Magazine» aus Berlin und die linke Zeitung «taz» schreibt.
Wie Schick auf Twitter schreibt, hat sie gegen Kelle Strafanzeige wegen Volksverhetzung eingereicht. Deren Text sei eine «Verschwörungserzählung», die jegliche Diskriminierungen relativiere, Menschen pathologisiere, ihre Bevormundung fordere und Rechtsverletzungen unsichtbar mache.
Ich habe jetzt Birgit Kelle wegen Volksverhetzung angezeigt und eine Beschwerde beim Presserat gegen NZZ eingereicht wegen Verstöße gegen Pressekodex Ziffer 1: Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde, Ziffer 2: Sorgfalt und Ziffer 12: Diskriminierung. https://t.co/WCpq2r6KVk
— sibel schick (@sibelschick) January 31, 2021
Nebst der Strafanzeige hat Schick auch beim Deutschen und beim Schweizer Presserat Beschwerde eingereicht – weil Kelles Artikel in ihren Augen die im Pressekodex festgehaltene «Achtung der Menschenwürde» missachtet.
Ich kann allen, die die Ressourcen haben, ans Herz legen anzuzeigen und sich beim Presserat zu beschweren. Der Text ist eine Verschwörungserzählung, relativiert jegliche Diskriminierungen, pathologisiert Menschen, fordert ihre Bevormundung und macht Rechtsverletzungen unsichtbar.
— sibel schick (@sibelschick) January 31, 2021
Eine zweite Beschwerde auch beim Presserat Schweiz ist raus. Da lauten die Ziffer allerdings anders. Wer ebenso eine Beschwerde einreichen möchte, muss wegen Pressekodex Richtlinie 3.2 - Quellenbearbeitung, 8.1 - Achtung der Menschenwürde und 8.2 -Diskriminierungsverbot.
— sibel schick (@sibelschick) January 31, 2021
Auf Anfrage erklärt die NZZ, sie habe den Tweet von Sibel Schick zur Kenntnis genommen, offiziell liege diesbezüglich aber noch nichts vor: «Falls es zu einem Verfahren kommt, werden wir entsprechende Vorwürfe zunächst im Detail prüfen und dann Stellung nehmen.» Auch Birgit Kelle erklärt, sie habe von den Behörden noch nichts von einer Strafanzeige gehört: «Ich nehme nicht Stellung zu einem Verfahren, das ich nicht kenne.»
Der Streit um Kelles Text ist ein Echo auf eine Diskussion, welche in den USA intensiv geführt wird. Dort hat Abigail Shriers Buch «Irreversible Damage – The Transgender Craze Seducing Our Daughters» (in etwa: «Irreparabler Schaden – der Transgender-Hype, der unsere Töchter verführt») für viel Streit gesorgt.
Shrier verweist darin auf die stark angestiegenen Zahlen von geschlechtsumwandelnden Operationen von jugendlichen Transmännern. Dieses Phänomen sei auf einen «gesellschaftlicher Trend» unter jungen Frauen im Teenageralter zurückzuführen. Interessanterweise sei die Zunahme in erster Linie bei Familien aus der weissen Mittel- und Oberschicht zu beobachten.
Kritiker nannten Shriers Buch transphob. Ihre Thesen würden das Leid von Menschen, die im falschen Körper geboren seien, verharmlosen. Für Shriers Unterstützer wiederum ist der Transphobie-Vorwurf gegen die Autorin ein Angriff auf die Meinungsfreiheit: Es müsse erlaubt sein, nach den Ursachen der stark angestiegenen Anzahl jugendlicher Transmänner zu suchen.
(bzbasel.ch)
Aber minderjährige mit Segen der Gerichtsbarkeiten hormonell behandeln? Inmitten der Persönlichkeitsbildung?