Normalerweise sieht das Szenario eher folgendermassen aus: Der Grossvater kann den Haushalt nicht mehr allein meistern und weil sich keines der Familienmitglieder kümmern kann oder will, landet Grosspapi im Heim. Bei Klaus Seidel ist die Situation genau umgekehrt: Hier würde sich die Familie gerne kümmern, doch sie darf nicht. Weil die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB so entschieden hat. Dass es an einem solchen Entscheid kaum etwas zu rütteln gibt, zeigt die Geschichte der Familie Seidel.
Klaus Seidel stammt ursprünglich aus Deutschland. Im Jahr 1986 zieht der ehemalige Justizbeamte in die Schweiz und lebt zusammen mit seiner Frau, einer Schweizerin, in einem grossen Haus in Altdorf im Kanton Uri. Da diese vor einigen Jahren erkrankt, übernimmt er die Pflege seiner Frau – ausserdem kümmert er sich um Haus und Garten und geht täglich etwa sechs Kilometer spazieren.
Doch an Weihnachten 2014 erleidet Seidel einen Schlaganfall, er kommt ins Spital. Anschliessend geht es für vier Wochen gemeinsam mit der Ehefrau nach Weggis in die Reha. «Es ist ganz okay hier, aber irgendwie langweilig», erzählt Klaus Seidel seinem Bruder Helmut. Schon da wünscht er sich von Herzen, in sein Haus in Altdorf zurückkehren zu können.
Doch das hätte sein Gesundheitszustand nicht erlaubt. «Ganz allein einen Haushalt führen – das wäre wohl nicht mehr gegangen», erklärt Helmut Seidel. Darum beschliessen seine fünf Brüder und Schwestern, für Klaus Seidel und dessen Ehefrau ein Doppelzimmer in einem offenen Altersheim zu mieten. Nachdem das Ehepaar dort einzieht, lebt sich Seidels Frau schnell ein – ihr gefällt es hier gut. Doch Klaus Seidel ist unglücklich – er wird laut und aufgeregt. Als sein Bruder und die Heimleiterin ihm gut zureden wollen, platzt es irgendwann aus ihm heraus: «Dann erschiesse ich mich lieber gleich. Mich und meine Frau auch.»
Die Geschwister sind sich sicher, dass diese Aussage niemals ernst gemeint war: «In der Reha war ja auch noch alles in Ordnung, da hat er sowas nie gesagt. Er war einfach verzweifelt, weil er so unbedingt in sein Haus zurück wollte», erzählt Helmut Seidel, der jüngste Bruder, im Gespräch mit watson.
Doch der Weg zurück in die eigenen vier Wände ist ab diesem Moment so gut wie ausgeschlossen: Nach seinem Wutausbruch wird er in eine Psychiatrie gebracht, die KESB schaltet sich ein. Laut einem Bericht vom Stern war die Familie von Klaus Seidel schon im Spital hinter vorgehaltener Hand vor der Behörde gewarnt worden: Die KESB würde rigoros die Fürsorge für Menschen übernehmen, die als nicht mehr ganz zurechnungsfähig gelten, habe man ihnen dort gesagt.
Auf diese Warnung hatte die Familie zunächst nicht viel gegeben, doch schon nach kurzer Zeit fühlen sich die Angehörigen machtlos. Eine Psychologin erstellt ein Gutachten: Klaus Seidel soll demnach urteilsunfähig, gefährlich für sich und andere Personen und ausserdem mittel bis schwer dement sein. Psychiatrie und KESB stehen in regem Kontakt – die Entscheidungen werden über die Köpfe der Verwandten hinweg gefällt.
«Weil mein Bruder auf keinen Fall in einem Heim wohnen wollte, haben wir uns Folgendes überlegt: Wir wollten einen privaten Pflegedienst engagieren, der sich bei meinem Bruder Zuhause um ihn kümmert», erzählt Helmut Seidel. Doch dieser Vorschlag wird praktisch ignoriert. Stattdessen bringt man Klaus Seidel im März in ein geschlossenes Heim für Demenz-Kranke.
«Von dem Moment an hat er nur noch abgebaut», so der Bruder – und weiter: «Der wäre dort vor die Hunde gegangen!» Alles, was Klaus Seidel jetzt tut, wird gegen ihn verwendet. «Ich muss mich bewegen, sonst roste ich völlig ein», sagt Klaus Seidel seinem Bruder Helmut am Telefon. Also macht er es sich zur Gewohnheit, in dem kleinen Hof des Heimes auf und ab zu laufen. Die Interpretation des Pflegepersonals: «Herr Seidel irrt planlos umher.»
Insgesamt elf amtsgerichtliche Verfügungen stellt die KESB aus. Gegen jene, welche die Unterbringung in einem geschlossenen Heim beschliesst, reicht Helmut Seidel im April Beschwerde ein. Die Entscheidung des Obergerichts Uri lässt mehrere Monate auf sich warten.
In der Zwischenzeit kommt es zu dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Als einer der Brüder Seidel zu seinem 80. Geburtstag lädt, soll auch Klaus Seidel bei der Feier am 6. Juni im deutschen Remscheid dabei sein. Er freut sich sehr darauf. Doch die KESB verbietet die Ausreise. Mit der Begründung, es würde zu viel Durcheinander für ihn bedeuten. Das Personal des Pflegeheims schlägt vor, den Geburtstag in die Schweiz zu verlegen.
«Da wurde mir klar, dass wir handeln müssen», berichtet Fritz Seidel, einer der Neffen des 88-jährigen Mannes. Mit dem Ziel, Klaus Seidels Situation entscheidend zu verändern, reist der 33-Jährige in die Schweiz. «Der Mann, den ich dort getroffen habe, das war nicht mehr mein Onkel Klaus. Man konnte ganz normal mit ihm reden und alles, aber seine frühere Lebenslust, die war einfach verschwunden. Er war so schrecklich traurig.»
Drei Wochen verbringt Fritz Seidel in Altdorf. Als er bemerkt, dass reden nichts bringt, beschliesst er – gemeinsam mit seinem Onkel – den Fluchtplan. Am 4. Juni gehen die beiden zusammen Klaus Seidels Frau in einem anderen Altenheim besuchen, anschliessend setzen sie sich in den Zug und fahren nach Deutschland. Als sie die Grenze überquert haben, ruft Fritz Seidel im Demenzheim an und informiert das Personal über die Flucht. Die Frau am anderen Ende ist empört.
Auf die Frage, ob er keine Konsequenzen befürchtet hatte, antwortet der 33-Jährige nur: «Angst hatte ich nie. Vieles ist nicht legal, aber hier ging es einfach um Gerechtigkeit. Als ich gesehen habe, wie es meinem Onkel dort geht und dass man ihn wie einen alten, verwirrten Tattergreis behandelt, war ich sehr verletzt. Es war mir ein inneres Bedürfnis, ihm zu helfen.»
Zurück in der Heimat wird Klaus Seidel umgehend von einer Ärztin untersucht. Ihr Urteil: Der 88-Jährige ist weder selbst- noch fremdgefährdend. Die Diagnose «mittel bis schwer dement» und «urteilsunfähig» hält sie für falsch. Sie setzt das starke Antipsychotikum, welches Klaus Seidel in der Schweiz verordnet wurde, ab und kommt zu dem Schluss, dass der Mann bei seiner Familie vorbildlich betreut wird.
Seit seiner Ankunft in Deutschland wohnt Klaus Seidel bei einem seiner Brüder, geht mit ihm zum Kegeln oder hilft bei der Gartenarbeit. «Mein Bruder macht uns keine Arbeit. Er kann sich selbst duschen, allein zur Toilette gehen und alles. In dem Heim hat man ihn zum Pflegefall gemacht – da wurde er geduscht, bekam Windeln angezogen und wurde um acht Uhr ins Bett geschickt», erzählt sein Bruder Helmut. «Das hat jetzt zum Glück alles ein Ende. Hier sind keine Spezialkräfte nötig. Mein Bruder braucht nur ein bisschen Unterstützung von anderen Menschen. Und die bekommt er hier.»
Am 10. Juli – als Klaus Seidel längst in Deutschland ist – trudelt schliesslich die Entscheidung des Obergerichts Uri bei Helmut Seidel ein: Die Klage wurde zurückgewiesen, Klaus Seidel muss im Heim bleiben. «Angehört wurden wir dazu aber nie», erzählt Helmut Seidel. «Ich habe mehrfach um ein Gespräch gebeten, aber die KESB hat immer alles abgeblockt und ist keinen Millimeter von der Stelle gewichen.»
Inzwischen hat die KESB ein polizeiliches Verfahren zur Rückführung von Klaus Seidel eingeleitet. Ausserdem will sie prüfen, ob die Staatsanwaltschaft wegen der «Entführung Urteilsunfähiger» eingeschaltet wird. Auf die Anfrage von watson, zu dem Fall Stellung zu beziehen, reagiert die Behörde nicht. Fritz Seidel hat die Entscheidung, seinen Onkel nach Deutschland zu holen, keine Sekunde lang bereut: «Vielleicht sollte ich die Schweiz jetzt erst einmal meiden. Bisher habe ich von den dortigen Behörden aber noch nichts gehört.»
Eine Auslieferung in die Schweiz hat Klaus Seidel nicht zu befürchten. Sollte er aber von sich aus in die Schweiz einreisen, muss er damit rechnen, sofort wieder ins Heim gebracht zu werden. Eigentlich könnte ihm das ja egal sein – aber eben nur eigentlich. Denn Klaus Seidels Frau lebt schliesslich noch in der Schweiz. Und sie vermisst er natürlich sehr. «Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende», erklärt Helmut Seidel. «Mein Bruder hat sich einen Anwalt genommen und Klage eingereicht.»
Es ginge vor allem darum, in der Schweiz Rechtssicherheit zu erlangen, damit Klaus Seidel sorglos seine Frau besuchen kann. Doch das alles sei natürlich ein Wettlauf gegen die Zeit. «Wenn man sieht, dass nur schon dieser kleine Mini-Entscheid drei Monate gedauert hat, kann man sich vorstellen, was da auf uns zukommt», so Helmut Seidel. Dennoch bleibt die Familie optimistisch: «Wir haben immer gesagt, wir kämpfen bis zum Schluss. Und jetzt, wo wir meinen Bruder hier in Deutschland haben, sitzen wir am längeren Hebel.»
Die Praxis der so genannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen hat bis in die 198oer-Jahre enormes Leid über die Betroffenen gebracht: Vor allem Menschen, die den früheren gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen nicht entsprachen, arm oder randständig waren, wurden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Die Gruppen, die damals wie heute betroffen waren, sind verschieden.
Nun wurde vor zwei Jahren die KESB gegründet, um sinnvoller und rechtlich einwandfreier vorzugehen, sich von dieser unrühmlichen Zeit der dominierenden Administrativbehörden zu lösen. Diese Vergangenheit kostet uns (alle) zwischen 300 und 500 Millionen Franken Entschädigung, so denn die nachstehende Volksinitiative gegen das erlittene Unrecht angenommen wird. Der Bund hat kürzlich einen 300-Mio-Vorschlag in die parlamentarische Vernehmlassung eingereicht.
http://www.wiedergutmachung.ch/
Müssen wir mittel- bis langfristig wirklich nochmals irgendwann für solche überrissenen Fürsorgemassnahmen mit unserem Steuergeld hinstehen und dem schuldigen Staat und seinen "professionellen Exponenten" unseren ganz persönlichen Obolus entrichten?