Cédric Wermuth konnte es nicht fassen. Der Chef einer Bankfiliale hatte ihn angerufen und ihm mitgeteilt: Eine Kundin wolle 100'000 Franken an ihn überweisen. Seltsamerweise sollte der Betrag auf ein Konto fliessen, das nicht unter Wermuths Namen erfasst sei.
Der Co-Präsident der SP ging der Sache auf den Grund. Es gab eine Videokonferenz mit dem Kadermann der Bank und der Kundin. Da stellte sich heraus: Wermuth kannte die Frau nicht. Sie fiel aus allen Wolken – denn sie meinte, dass der Politiker eine Liebesbeziehung mit ihr eingegangen sei.
Wie ist das möglich? In der Kriminalistik spricht man von «Romance Scam», von Liebesbetrug im Internet. Wermuth wurde als Lockvogel eingesetzt, ohne dass er davon gewusst hatte.
Die Betrüger gingen so vor: Sie erstellten in den sozialen Medien gefälschte Profile. Wermuth erzählt, dass er alleine auf Facebook fünf Seiten mit seinen Angaben gefunden habe. Neben seinen Personalien waren da Fotos, die ihn zeigten. Einige echte Aufnahmen wurden in einen falschen Kontext gestellt. Der Parteipräsident besuchte 2023 ein Fussballspiel zwischen der Schweiz und Kosovo. Im gefälschten Profil hiess es dann: Ich bin an der EM in Deutschland.
Die Betrüger wollen damit den Anschein von Aktualität erwecken. Sie erwähnen in ihren Einträgen politische Entwicklungen. Dann warten sie auf sogenannte Likes und auf wohlwollende Kommentare.
Frauen, die positiv reagieren, werden in einem Chat kontaktiert: Wer bist Du? Was machst Du so? Der falsche Wermuth bekundet erst sein Interesse, dann seine Sympathie, er verschickt Fotos – und bald ist die Rede von tiefen Gefühlen. Und auch davon, dass seine Ehe zerrüttet sei.
Die Liebesbetrüger im Internet schreiben von Treffen, zu denen es bald kommen werde. Sie schlagen Reisen vor, die man gemeinsam unternehmen könne. Sie sind aufmerksam: Einige Frauen, mit denen sie in Kontakt stehen, erhalten an ihren Geburtstagen einen Blumenstrauss samt Gratulationskarte zugeschickt.
Es finden sich dann aber immer Gründe, warum die Treffen verschoben werden müssen. Eine plötzliche Erkrankung, Termindruck bei der Arbeit. Bald kommt ein anderes Problem dazwischen: ein finanzieller Engpass.
Die Betrüger nennen Gründe, warum sie dringend Geld brauchen. Manchmal tischen sie den Opfern originelle Storys auf. Cédric Wermuth sagt: Einer Frau sei erzählt worden, dass er überschuldet sei.
Meistens werden die Opfer zunächst um eine kleine Summe angegangen. Dann soll mehr Geld fliessen. Schliesslich ist ein grosser Betrag gefragt, mit dem ein drängendes Problem aus der Welt geschafft werden soll – sodass einer glücklichen Liebesbeziehung nichts mehr im Weg steht. Überweist das Opfer das Geld, bricht der Liebesbetrüger den Kontakt ab.
Cédric Wermuth hat nun Anzeige erstattet wegen Identitätsdiebstahls. Die missbräuchliche Nutzung einer anderen Identität ist erst seit 2023 strafbar. Im Internet werden Interviews mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter und mit Sandra Boner, einer Moderatorin des Schweizer Fernsehens, verbreitet. Die frei erfundenen Texte empfehlen Investitionsplattformen, die eine hohe Rendite abwürfen.
Wermuths Anzeige ist bei der Kantonspolizei Aargau eingegangen und wird an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Das bestätigt Max Gräni, der Dienstchef Kriminalprävention der Kantonspolizei Aargau. Er sagt:
Die Täterinnen und Täter gäben sich normalerweise als Personen aus, die Berufe wie Pilot oder Ärztin ausübten. In Deutschland wurden Fälle bekannt, in denen die Profile von Schauspielern zum Zweck des «Romance Scam» gefälscht worden waren.
Im vergangenen Jahr wurden im Kanton Aargau 58 Fälle von Liebesbetrug im Internet zur Anzeige gebracht; die Deliktsumme betrug 2,8 Millionen Franken. Im laufenden Jahr steigen die Zahlen stark an; in den ersten sechs Monaten wurden bereits 40 Fälle angezeigt. «Bei den Fällen von Enkeltrick-Betrug gibt es einen Rückgang, beim Liebesbetrug im Internet geht der Trend hingegen in die andere Richtung», meint Gräni.
Dabei werden viele Fälle von «Romance Scam» nicht angezeigt. Die Opfer schämen sich. Sie haben Geld an einen Betrüger überwiesen – und sie haben sich in einen Menschen verliebt, der sich als Phantom herausstellt. Das ist ein schwerer Schlag, über den viele nicht sprechen wollen.
Über den Enkeltrick-Betrug ist dieses Jahr ein Dokumentarfilm gedreht worden. Das Delikt und das Vorgehen der Täter ist inzwischen den meisten bekannt. Die Betrüger rufen ältere Personen an und erzählen zum Beispiel, dass ein Angehöriger in eine Notlage geraten sei – darum müsse sofort Geld überwiesen werden.
Wie dreist die Täter beim Liebesbetrug im Internet vorgehen, wissen hingegen viele nicht. «Es dauert manchmal lange, bis eine Geldforderung gestellt wird», sagt Gräni. Die Betrüger lassen sich Zeit. Die Opfer sollen sich im Liebesglück wähnen, damit sie hohe Beträge überweisen.
Gräni betont:
Die Polizei kann gegen die Täter nur vorgehen, wenn ihr die Fälle zur Kenntnis gebracht werden. Die Ermittlungen sind oft aufwendig. Das Geld fliesst häufig auf Bankkonten im Ausland; dann braucht es Rechtshilfegesuche. In Westafrika, Osteuropa und Indien gibt es organisierte Banden, die sich auf «Romance Scam» spezialisiert haben.
Cédric Wermuth sagt:
Schlimm sei die Sache aber vor allem für die Opfer. Dabei müsse man beachten, dass die Werkzeuge der Täter immer ausgeklügelter würden.
Wermuth meint damit künstliche Intelligenz. Man kann inzwischen Videofilme herstellen, in denen Prominente scheinbar mit ihrer eigenen Stimme sprechen – und irgendeinen Unsinn von sich geben, den man ihnen in den Mund legt.
Der SP-Co-Präsident findet, dass die Politik und die Justiz in diesem Bereich genau hinschauen müssten – denn die Gefahr des Missbrauchs sei offensichtlich. Die Techfirmen, welche die Online-Plattformen betreiben, müssten in die Verantwortung genommen werden.
Künstliche Intelligenz kann eingesetzt werden, um potenziellen Opfern etwas vorzugaukeln. Zum Beispiel eine Liebesbeziehung – die stets auf dieselbe Weise endet: mit der Aufforderung, Geld locker zu machen.
(aargauerzeitung.ch)
Ich habe auch schon im Bekanntenkreis finanziell ausgeholfen. Aber selbst da nicht ohne Vertrag.
Ich verstehe die Blauäugigkeit von gewissen Menschen nicht. Da schrillen doch sämtliche Alarmglocken.
Dasselbe wie man zuerst Geld überweisen soll, um dann von einem Prinz ein Vermögen zu bekommen.