Der «Cocktail dînatoire», der auf 20.45 Uhr angesetzt worden war, musste warten. Die Unternehmer im SwissTech Convention Center von Ecublens VD hörten nicht mehr auf mit Fragen zur Energiestrategie 2050. «Ich möchte verhindern, dass ihr bis 23 Uhr bleiben müsst», sagte Moderator Olivier Dominik vom Westschweizer Fernsehen RTS schliesslich – und brach die Runde um 21.30 Uhr ab.
Das Interesse an der Energiestrategie ist hoch. Und die letzten Umfrageergebnisse lassen vermuten, dass die Abstimmung vom 21. Mai doch noch eng werden könnte. Bei SRG sank der Befürworter-Anteil auf 56 Prozent, bei Tamedia auf 53 Prozent. Und in der SRG-Umfrage zeigte sich, dass die Gegner Boden gutmachen. Gegenüber dem Vormonat legten sie von 30 auf 37 Prozent Nein-Stimmen zu.
«Interessant ist», sagt SVP-Generalsekretär Gabriel Lüchinger, «wie viele Leute in den letzten zwei Wochen ins Nein-Lager wechselten, als sie sich im Detail mit der Vorlage zu beschäftigen begannen». Die Frage sei, ob es noch reiche, den Trend in eine Nein-Mehrheit umzuwandeln. «Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Aber wir sind sehr motiviert.»
Für rote Köpfe sorgt vor allem die Frage, wie hoch die Kosten der Energiestrategie tatsächlich sind. 3200 Franken pro Jahr müsse eine vierköpfige Familie künftig mehr zahlen, sagen die Gegner. Die Befürworter hingegen reden von nur 40 Franken pro vierköpfige Familie.
Wie kommt es zu dieser gewaltigen Differenz? Die SVP beruft sich auf die Medienmitteilung des Bundesrats zur Botschaft der Energiestrategie 2050 vom 4. September 2013. Unter dem Titel «Kosten» führte der Bundesrat drei Punkte auf, deren Kosten jene 211 Milliarden Franken ergeben, aus denen die SVP die 3200 Franken Kosten pro Jahr und Haushalt ableitet: Für Erneuerung und Betrieb des bestehenden Kraftwerkparks rechnete der Bundesrat für den Privatsektor bis 2050 mit rund 126 Milliarden Franken, für Bau und Betrieb neuer Kraftwerke 67 Milliarden und für Um- und Ausbau der Verteilnetze mit 18 Milliarden.
«Die Befürworter reden ja selber immer von der Energiestrategie und nicht vom Energiegesetz. Das Gesetz ist also der Türöffner für die gesamte Strategie», sagt SVP-Nationalrat Toni Brunner. In der Botschaft des Verfassungsartikels für ein Klima- und Energielenkungssystem (Kels) habe der Bundesrat aufgezeigt, wie er sich die Finanzierung dieser Riesensumme vorstelle – nämlich mit massiven Aufschlägen auf Energieträgern: plus 3 Rappen pro kW/h Strom, 67 Rappen pro Liter Heizöl und 26 Rappen pro Liter Benzin.
Zusammen mit dem Zubau für Wind- und Sonnenenergie sowie den dezentralen Netzen komme man hochgerechnet auf die 3200 Franken, sagt Brunner. Kels sei noch nicht vom Tisch, der Ständerat habe die Vorlage noch nicht beraten.
Im Nationalrat scheiterte der Bundesrat mit dieser Finanzierungsidee jedoch kläglich. Deshalb findet SP-Fraktionschef Roger Nordmann, dass die «3200 Franken der SVP gleich dreifache Fake News» seien. Erstens werde die Kels nicht eingeführt, weil sie im Nationalrat einstimmig abgelehnt worden sei. «Zweitens wäre diese Lenkungsabgabe ohnehin zurückerstattet worden», sagt er.
Diese Rückerstattung sei Bestandteil des Verfassungstextes. Und selbst wenn die Kels den Durchbruch geschafft hätte, wären die 3200 Franken drittens die «extremste Variante, die nie zur Anwendung gekommen wäre», glaubt der SP-Energiepolitiker, der auch Präsident der Sonnenenergie-Lobbyorganisation Swissolar ist.
Doch welche Variante dereinst zur Anwendung kommt, weiss auch Nordmann nicht – niemand weiss das genau. Klar ist nur, dass die AKWs bis 2050 irgendwie vom Netz und durch andere Stromerzeuger ersetzt werden müssen. Gleichzeitig muss das Stromnetz umgebaut werden, weil der Strom in Zukunft dezentraler produziert wird.
Doch wie viele Windräder in die Landschaft gepflanzt (500 oder 1000 oder mehr) und wie viele Millionen Solarpanels verbaut werden, ob und wie viele Gaskraftwerke installiert und wie viele zusätzliche Staudämme hochgezogen werden müssen – all das ist unbekannt. Genauso wie niemand weiss, wie viel Strom dereinst importiert werden muss und ob es dafür genügend Durchleitungskapazitäten gibt.
Klar dagegen ist, dass es bei den 40 Franken pro Haushalt und Jahr nicht bleiben wird. Sie sind lediglich das Eintrittsticket für die Energiewende. Man könnte sie auch als einen Topfen auf einen heissen Stein bezeichnen. Denn die Energiestrategie, wie sie Doris Leuthard und ihrem Bundesamt für Energie vorschwebt, bedeutet nichts weniger als den kompletten Um- beziehungsweise Neubau der schweizerischen Energiearchitektur.
Der milliardenschwere Neubau ist dabei nur der eine Streitpunkt. Der andere sind die massiven Reduktionsziele, welche gleichzeitig im neuen Energiegesetz formuliert sind. Dieses definiert klare Vorgaben: Der durchschnittliche Energieverbrauch pro Person und Jahr muss gegenüber dem Stand im Jahr 2000 um 16 Prozent bis 2020 und um 43 Prozent bis 2035 sinken. Der Elektrizitätsverbrauch pro Person und Jahr muss in den gleichen Perioden um 3 Prozent beziehungsweise um 13 Prozent gesenkt werden.
Wie schwer es ist, den Stromverbrauch zu senken, zeigt sich im langfristigen Vergleich. Obwohl durch den technischen Fortschritt (zum Beispiel LED-Lampen) und durch die Verlagerung von Industriejobs ins Ausland zum Teil deutlich weniger elektrische Energie gebraucht wird als früher, bleibt der Gesamtverbrauch seit Jahren konstant hoch. Zwar gibt es energieeffiziente Geräte im Haushalt, aber gleichzeitig sind eine Vielzahl neuer Apparate hinzugekommen. So gab es im Jahr 2000 noch deutlich weniger Wäschetrockner und kaum Set-top-Boxen in Schweizer Haushalten. Das hat sich radikal geändert.
Ganz zu schweigen von der Elektromobilität. Mittlerweile sind zwei Prozent der Neuzulassungen E-Autos – Tendenz stark steigend. Im Jahr 2050 könnten über zwei Millionen Elektrofahrzeuge auf Schweizer Strassen herumkurven. Gemäss konservativen Schätzungen der Empa würden diese so viel Strom verbrauchen wie ein Atomkraftwerk. (aargauerzeitung.ch)
Wieso soll man also die Energiewende nicht anpacken, wenn sie uns doch unabhängiger macht. Auch von der Stromlobby, übrigens.