Dass die Diskussion um Europa in der SP hart geführt werden würde, stand früh fest. Bereits eine Woche, bevor der Bundesrat die EU-Verträge offiziell vorstellte, verschärfte sich die Tonlage. Roger Nordmann, immerhin ehemaliger Fraktionspräsident, bezichtigte SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard nachgerade der Lüge.
Er möge sich doch an die Fakten halten, mahnte Nordmann auf Linkedin und Bluesky den Gewerkschaftschef ab, nachdem dieser in der «Sonntagszeitung» gegen das Stromabkommen gewettert hatte.
Am Freitag trat Bundesrat Ignazio Cassis vor die Medien, um das Vertragswerk vorzustellen, das die Beziehung der Schweiz zur EU stabilisieren soll. Im Kern ist es ein Handelsabkommen über verschiedenste Belange des öffentlichen Lebens. Von Strom über Gesundheit bis Zuwanderung.
Wenige Tage davor hatte die SVP noch Hellebarden aufs Rütli geschleppt, um die Schweizer Unabhängigkeit zu beschwören. Doch seit dem Auftritt von Cassis sind es vor allem die Befürworter der EU-Verträge, die angriffslustig in Erscheinung treten.
Einer davon ist der Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer. In einer Hauruck-Aktion trommelt er kurzerhand nationale Parlamentarierinnen und Parlamentarier vor dem Bundeshaus zusammen.
60 Politiker folgen seinem Aufruf, den Auftakt der EU-Debatte einzuläuten. Die meisten davon gehören dem rot-grünen Lager an. Doch auch Bürgerliche bekennen Farbe: Philippe Nantermod etwa, Daniel Ruch und Anna Giacometti (alle FDP) sowie Maya Bally, Reto Nause und Nicole Barandun aus der Mitte-Partei stellen sich vor die Kamera.
Auf der Plattform X doppelt Nussbaumer nach: Wenn das Parlament erst einmal die Verträge gelesen habe, «werden es über 100 (Parlamentarier, Anm. d. Red) sein».
Seinem Freund Nordmann folgt er zudem gleich in den Ring gegen Pierre-Yves Maillard: Es sei «erschreckend, was am linken Rand der Sozialdemokratie erzählt wird. Es ist eine Kombination aus energiewirtschaftlichem Unwissen und dem bösen Willen, das europäische Projekt schlechtzureden», giftelt Nussbaumer gegen den Waadtländer Ständerat. Selten traten die innerparteilichen Differenzen in der SP so zutage wie jetzt.
Die Angst der Pro-Europäer ist gross, dass Maillard mit seinem Kurs die Basis entzweit. Nachdem dieser in der Debatte um den Lohnschutz bereits radikale Positionen einnahm, bekämpft er nun das Stromabkommen. Was vor allem in der Welschschweiz verfängt.
Dagegen schickt sich ein Bundesrat an, die SVP rhetorisch zu kontern. In einem Interview mit dem «Sonntagsblick» greift Justizminister Beat Jans die Legende von Wilhelm Tell auf und sagt: «Das EU-Vertragspaket ist wie der Rütli-Schwur: ein gegenseitiges Versprechen in schwierigen Zeiten – mit Partnern, die gemeinsam vorwärtsgehen wollen.»
Dass es sich dabei um eine wohl kalkulierte Provokation handelt, zeigt sich daran, dass Jans den Satz im Verlauf des Sonntags auch noch auf X teilt. Auch zum Verhandlungsergebnis mit der EU äussert sich der SP-Magistrat pointiert: «Unser Chefunterhändler Patric Franzen würde in England dafür zum Ritter geschlagen – er und die ganze Verhandlungsdelegation haben exzellente Arbeit geleistet.» Einen Adelstitel liesse die Schweizer Verfassung indes nicht zu.
Die Spitze verfehlt ihre Wirkung nicht. «Für Euro-Turbo Jans ist der Rütlischwur etwa gleich fremd wie die Schweizer Demokratie für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen», schimpft SVP-Präsident Marcel Dettling. Aus der Tell-Geschichte ziehe Jans die falschen Schlüsse, findet der Innerschweizer. Kurz: «So wie er im Asylwesen versagt, versagt er auch im EU-Dossier.»
Auch in der FDP ist die Meinung noch nicht gemacht. Am Samstag hielten die Jungfreisinnigen ihre Delegiertenversammlung. Ohne ein Wort über Europa zu verlieren. Geht es nach dem freisinnigen Solothurner Nationalrat Simon Michel, habe die Fraktion allerdings ihre Position gefunden.
«Es gibt kritische Stimmen, aber in der Bundeshausfraktion sind das lediglich eine Handvoll Leute», sagte der Pro-Europäer in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». Natürlich sei durch den Entscheid der Partei, sich erst vertieft mit den Verträgen zu befassen, ein gewisses Vakuum entstanden. «Das gilt es nun zu füllen», sagte Michel.
Die SVP kritisiert der Ypsomed-CEO mit harschen Worten. Diese sei «mit einem antieuropäischen und xenophoben Kurs gross geworden», schade dem Schweizer Wirtschaftsstandort aber «massiv». Auch an Gegenspielerin und SVP- Vizepräsidentin Magdalena Martullo liess Michel kein gutes Haar: Diese investiere als Unternehmerin zu einem grossen Teil ohnehin nicht mehr in der Schweiz.
Inhaltlich ist die Diskussion um die Schweizer Beziehung zu Europa nach dieser Rede und Gegenrede noch nicht wesentlich weiter als vor der Publikation der Verträge am Freitag. Der Ton der Debatte ist aber allemal gesetzt.
Wer ein solches Vertragswerk, wegen ein paar Punkten, die einem nicht passen, zu Fall bringen will, muss sich nicht wundern, dass die Schweiz Rosinenpicker genannt wird.