Der Bundesrat hat geliefert. Endlich, werden manche sagen. Ein halbes Jahr nach Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union wurde das umfangreiche Vertragspaket am Freitag im Wortlaut veröffentlicht. Bislang kannte man den Inhalt nur als Factsheets.
Jetzt liegen die vollständigen Vertragstexte vor. Das englische «Original» durften Parlamentarier bereits vorab einsehen, was zu einer eher lächerlichen Polemik führte. So hatten die SVP-Vertreter ihre Meinung zu den Verträgen offenbar schon am Tag vor der Einsichtnahme festgelegt, doch das erstaunt niemanden.
Jetzt hat der Bundesrat die Abkommen definitiv abgesegnet und in die Vernehmlassung bis Ende Oktober geschickt. Das voluminöse Paket ist keine lockere Ferienlektüre. Es umfasst ingesamt fast 1900 Seiten. Doch es ist entscheidend für die Fortsetzung des bilateralen Wegs, den der Bundesrat nach wie vor als «beste Option» bezeichnet.
«Eine Stabilisierung unserer Beziehungen mit Brüssel ist unverzichtbar», betonte Aussenminister Ignazio Cassis vor den Medien. Scheitert das Paket – die Befürworter sprechen von Bilateralen III, die Gegner von einem Rahmenvertrag 2.0 –, ist seine Zukunft unsicher. Der Europarechtler Matthias Oesch brachte es in «CH Media» auf den Punkt:
Der institutionelle Teil mit der dynamischen Übernahme von neuem EU-Recht in jenen Sektoren, in denen die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt, sowie der möglichen Sanktionierung bei einer Weigerung der Schweiz sorgt schon jetzt für rote Köpfe. Die Gegner des Pakets wittern eine Gefahr für die Souveränität und die direkte Demokratie.
Es handelt sich um eine abstrakte Debatte, denn niemand kann die konkreten Folgen ernsthaft abschätzen. Dennoch agieren die Befürworter angesichts des bereits angelaufenen Trommelfeuers der Hellebarden-SVP oder von Kompass/Europa defensiv. Planspiele gehen von einer Abstimmung erst nach den Wahlen im Oktober 2027 aus.
Eine Rolle spielt dabei die SVP-Initiative gegen die 10-Millionen-Schweiz, die faktisch auf eine Kündigung der Personenfreizügigkeit abzielt. Mit einem Ja würde sich das Vertragspaket erledigen, weshalb zuerst über diese Initiative abgestimmt werden soll, womöglich 2026. Allerdings gibt es dazu kontroverse Meinungen, und die Frage eines Gegenvorschlags steht im Raum.
So verständlich diese Bedenken sein mögen, es spricht wenig für eine Verzögerungstaktik. Vielmehr sollten die Bilateralen III rasch vors Volk kommen, spätestens Anfang 2027. Dafür gibt es mehrere Gründe. So haben sich Gewerkschaften und Arbeitgeber beim Lohnschutz auf Massnahmen im Inland geeinigt. Das entschärft den befürchteten Widerstand von links.
Zwar polemisiert Gewerkschaftspräsident und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard auch gegen das Stromabkommen. Er behauptet, es würde den Ausbau der erneuerbaren Energien bremsen. Dabei zeigt eine Auswertung der Schweizerischen Energiestiftung (SES), dass die meisten EU-Länder in diesem Bereich weiter sind als die Schweiz.
Die SP dürfte dem Stromabkommen mehrheitlich zustimmen. Das Gesamtpaket begrüsst sie in einer Medienmitteilung vom Freitag ausdrücklich. Grüne und Grünliberale stehen ebenfalls dahinter. Unklar ist, ob die «traditionelle» Europa-Allianz mit FDP und Mitte (der früheren CVP) erneut zustande kommt. Einiges spricht für dieses Szenario.
Bei beiden Bundesratsparteien treten die bisherigen, EU-skeptischen Präsidenten ab. Der designierte Mitte-Präsident Philipp Matthias Bregy hält sich in der Europafrage bedeckt und damit alle Optionen offen. In seiner Partei dürfte es auf ein Ja hinauslaufen, und auch bei den Freisinnigen deutet einiges in diese Richtung.
Der unerwartete Rücktritt von Präsident Thierry Burkart könnte damit zusammenhängen. Interne Analysen dürften darauf hindeuten, dass ein FDP-Ja wahrscheinlich ist, nicht zuletzt wegen der proeuropäischen Westschweizer. Ihre Parole will die FDP im Oktober festlegen, an der gleichen Delegiertenversammlung, an der Burkarts Nachfolge geregelt werden soll.
Die EU-Verträge setzen die ohnehin angeschlagene FDP einer Zerreissprobe aus. Und auch unter den Mitte-Ständeräten gibt es Skeptiker. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass das Parlament das Paket durchwinken wird. Für eine rasche Abstimmung spricht ausserdem die geopolitische Lage, namentlich die von US-Präsident Donald Trump erzeugten Turbulenzen.
Unter seiner Zollpolitik leiden Schweizer Unternehmen, besonders aus der Industrie. Immer deutlicher zeichnet sich zudem ab, dass Trump die USA in einen autoritären Staat umbauen will. Die Europäische Union hingegen ist ein demokratischer, wirtschaftlich verlässlicher Fels in der Brandung. «Wir gehören zu Europa», brachte es Bundesrat Cassis auf den Punkt.
Auch deshalb wäre eine rasche Abstimmung wünschenswert. Das grösste Hindernis ist die Frage, ob das Ständemehr benötigt wird. Der Bundesrat hat sich mit einem überraschenden Vorpreschen dagegen ausgesprochen und sich dem Bundesamt für Justiz angeschlossen. Ohne Ständemehr hätten die Bilateralen III eine hohe Erfolgschance vor dem Stimmvolk.
Allerdings käme in diesem Fall die Referendumsfrist ins Spiel, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine Abstimmung erst 2028 stattfinden würde. Entscheidet sich das Parlament für das obligatorische Referendum, ginge es schneller, wie bei der EWR-Abstimmung 1992. Doch das Ständemehr ist wegen der Blockademacht der konservativen Kleinkantone riskant.
Im Interesse einer raschen Entscheidung sollte man vielleicht dieses Risiko eingehen. Ein Volksmehr ist machbar, das zeigt unter anderem eine Umfrage des rechtsbürgerlichen «Nebelspalters». Ob es für das Ständemehr reichen würde, bleibt offen. Aber an einer quälenden «Hängepartie» in diesem wichtigen Dossier kann niemand Interesse haben.
wurden in der EU über 600 Gesetzgebungsakte erlassen.
Irgendwie frage ich mich einfach, wenn ich jetzt nur schon das Riesenwerk für eine Teilmenge für die Schweiz anschauem, wie die EU mit dieser Gesetzeswut die nächsten 10J überstehen kann. Da blickt doch am Schluss keiner mehr durch.
Klingt ja verlockend. Nach dem Motto jedem seine Meinung, solage sie nicht anders als meine ist.
Ich habe mich jetzt nicht eingehend mit den 1900Seiten befasst aber aber dieser Punkt reicht eigentlich schon zur Ablehnung.
Das neue Abkommen verankert ausdrücklich ein garantiertes Niederlassungsrecht für selbstständig Erwerbstätige, die Staatsangehörige einer Vertragspartei sind und sich im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei zur Ausübung ihrer Tätigkeit niederlassen möchten.
Herr Blunschi scheint sich keine grossen Sorgen über die wachsende Zahl an Freelancern zu machen, die ihm Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt machen könnten – obwohl die Erfahrungen in den EFTA-Staaten bereits gezeigt haben, dass ähnliche Regelungen zu einem deutlichen Anstieg führte.