Umzingelt von einer Grenze: Rund um das kleine Dorf verläuft die deutsch-schweizerische Landesgrenze.Bild: Boas Ruh
Der deutschen Enklave droht der Exodus
Das deutsche Dorf Büsingen ist komplett von der Schweiz umgeben und kämpft seit Jahren gegen die Abwanderung. Mit dem Entscheid der SNB, die Euro-Mindestgrenze aufzuheben, ist mit einem Schlag alles noch teurer geworden – und Büsingen droht der grosse Exodus. Reportage aus einem Dorf, das – wieder einmal – lieber zur Schweiz gehören möchte.
17.01.2015, 11:2925.02.2015, 08:24
boas ruh
Nur der aufmerksame Reisende merkt, dass der Bus soeben eine Grenze überquert hat. Fünf Minuten sind vergangen seit der Abfahrt im Bahnhof Schaffhausen und bereits beginnt Deutschland. Das Generalabonnement ist weiterhin gültig und nach einem Reisepass fragt niemand. Nur der Velostreifen am Strassenrand ist plötzlich weiss statt gelb markiert. Ein Ortsschild huscht am Busfenster vorbei. «Büsingen» heisst es da. Büsingen, mitten in der Schweiz. Aber eben vor allem Büsingen DE, Landkreis Konstanz. Und das ist das Problem. Jetzt erst recht.
«Schlimmer kann es nicht mehr werden», sagt Roland Güntert und er wirkt noch besorgter, als er es ohnehin schon war. Sein Dorf hat so schon grosse Probleme. Aber jetzt, da die Schweizerische Nationalbank die Kursuntergrenze für den Euro aufgehoben hat, geht's ans Lebendige. «Wir müssen mit dem aktuellen Wechselkurs 20 Prozent mehr Einkommen versteuern. Dabei verdienen wir doch keinen Rappen mehr», sagt Güntert, der 2011 die Bürgerinitiative Büsingen gegründet hat, die dafür kämpft, dass die Steuern dem Schweizer Niveau angepasst werden. Statt der Angleichung ist mit einem Knall die Kluft noch grösser geworden. «Der Ball liegt in Berlin, aber jetzt müssen Massnahmen ergriffen werden. So schnell wie möglich und zwar rückwirkend», sagt Güntert. Und dann sagt er noch diesen einen Satz. Den Satz, den viele denken hier in Büsingen, den Politiker wie Vizebürgermeister Güntert aber kaum je öffentlich mitteilen würden: «Wenn sie in Berlin jetzt an keiner Lösung interessiert sind, dann sollen sie Büsingen den Schweizern überlassen!» Rumms!
So deutlich hat das schon lange keiner mehr gesagt. Obschon die Büsinger mehrfach die Grenze auflösen und zur Eidgenossenschaft wechseln wollten, zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch alle Versuche schlugen fehl. Büsingen blieb deutsches Staatsgebiet. Doch die Deutschen, sie blieben nicht in Büsingen.
Büsingen stirbt aus
«Deutschland will uns nicht hergeben.»
Mandy Keser, die Inhaberin des Lebensmittelladens Keser-Daum.
Als 2002 die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU in Kraft trat, bot sich plötzlich eine Lösung für alle geplagten Büsinger und viele machten davon Gebrauch: Sie zogen in die Schweiz. Besonders spürbar ist dies bei den unter 25-Jährigen. Heute hat Büsingen 30 Prozent weniger junge Einwohner als im Jahr 2002.
Jetzt verschärft sich die Situation in Büsingen noch mehr. Das weiss auch Bürgermeister Markus Möll. «Von einer Sekunde auf die andere wurde für uns alles 20 Prozent teurer.» Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble habe ihm versprochen, dass er Büsingen helfen werde. «Ich erwarte nun, dass er zu seinem Wort steht.» Sonst droht der Exodus weiterzugehen. «Es gibt im Dorf schon Leute, die offen sagen, dass sie nun endgültig in die Schweiz auswandern und Büsingen verlassen. Damit wird unsere Situation noch dramatischer.»
Vor der Post steigt eine Frau vom Fahrrad. Sie führt zusammen mit ihrem Mann einen Landwirtschaftsbetrieb in Büsingen – einen Bauernhof in Deutschland nach Schweizer Richtlinien. Sie sagt, an das Leben in dieser paradoxen Welt müsse man sich erst gewöhnen: «Wir sind keine Deutschen. Wir sind aber auch keine Schweizer.»
Eingeklemmt zwischen zwei Ländern: Dorfeingang von Büsingen.Bild: Boas Ruh
Vieles an Büsingen ist schweizerisch. Im Restaurant wird Schweizer Bier gezapft und dieses in Franken bezahlt. Dennoch ist Büsingen deutsches Staatsgebiet und grundsätzlich gilt deutsches Recht.
Das Skype-Verbot
Es gibt jedoch unzählige Sonderregelungen. Die jüngste trat in Kraft, weil Büsingen gemäss EU-Recht von der Mehrwertsteuer befreit ist – da gilt das Schweizer System. Für den Chatdienst Skype ist dies wohl zu kompliziert. Skype reagierte umzimperlich: Gemäss Nutzungsbedingungen «werden die Produkte in diesen Gebieten nicht angeboten». Die Skype-Nutzung wurde für Büsingen also kurzerhand verboten.
Da in der Enklave das Schweizer Preisniveau herrscht, die direkten Steuern aber in Euro nach Deutschland entrichtet werden müssen, bezahlt ein Büsinger Einwohner viel mehr Steuern als sein Nachbar und Arbeitskollege aus Schaffhausen.
«Entvölkerung ist ein Problem!»
Gunnar Lang, Ehrenbürger.
«Ein Grenzgänger in Büsingen bezahlte schon vor dem Entscheid der Nationalbank das Dreifache an Steuern verglichen mit jemandem, der in der Schweiz wohnt und den gleichen Lohn bezieht», erklärt Gunnar Lang. Wenn sich jetzt nichts ändert, kommt es noch schlimmer. Während 22 Jahren war Lang Bürgermeister der Enklave am Rhein. Heute ist er Ehrenbürger und geniesst den Ruhestand in seinem Haus, das direkt am Rheinufer steht. Wenn es im steuerlichen Bereich keine Lösung gibt, werde dies fürchterliche Folgen für das Dorf haben, erklärt der ehemalige Bürgermeister. Immer mehr Einwohner würden dann den Ort verlassen. «Es gäbe keine Schule und keine Infrastruktur mehr. Das ist ein Teufelskreis, der auf keinen Fall eintreten darf», sagt Lang.
Ein beliebtes Fotosujet: Büsinger Dorfkern.Bild: Boas Ruh
Zähe Verhandlungen
Exklave oder Enklave?
Büsingen ist eine Exklave und eine Enklave. Den Unterschied macht der Ort des Betrachters. Von Deutschland aus gesehen ist Büsingen eine Exklave: ein Gebiet, das vom Rest des Landes abgeschnitten und nur über fremdes Territorium zu erreichen ist.
Von der Schweiz aus betrachtet ist Büsingen eine Enklave: fremdes Gebiet, das vom eigenen Land vollständig eingeschlossen ist.
Roland Güntert, der mit der Bürgerinitiative Büsingen dafür kämpft, dass die Steuern dem Schweizer Niveau angepasst werden, sagt: «Wir sind nicht mit Deutschland im Wettbewerb, sondern mit der Schweiz. Die haben die tieferen Steuern und nehmen uns die Jungen weg».
Eigentlich verstehe er ja all diejenigen, die das Dorf verlassen. Falls sich sein Sohn irgendwann für einen Wegzug entscheidet, werde er ihm sagen: «Mach das, ich verstehe dich.» Natürlich möchte er, dass die Jungen in Büsingen bleiben. Aber nur einen Kilometer nebenan habe man es schon viel besser. «Es kann nicht sein, dass den Jungen alles Geld aus der Tasche gezogen wird», sagt Güntert resigniert.
«Die deutschen Behörden stehen wie eine Wand. Eine dicke, hohe, sture Wand. Aber ihnen gehen die Argumente aus.»
Roland Güntert
Seinen Kampf mit dem deutschen Finanzministerium in Berlin gibt er aber nicht auf. Die Verhandlungen laufen bereits seit Jahren und sind zäh. «Die deutschen Behörden stehen wie eine Wand. Eine dicke, hohe, sture Wand. Aber ihnen gehen die Argumente aus und das ist unsere Chance. Wir lassen nicht locker.» Vielleicht kommt jetzt frischer Wind in die Verhandlungen.
«Man passiert laufend Grenzen»
Auch wenn viele Büsingen verlassen: Noch wohnen Familien in der deutschen Enklave und profitieren dabei von einer ganzen Reihe von Vorteilen. Die Betreuung in der Kindertagesstätte ist stark subventioniert und Grundstücke werden nicht besteuert.
«Man muss sich für das deutsche oder das Schweizer Schulsystem entscheiden.»
Axel Thoma, Sportchef des Grasshopper Clubs Zürich.
Familie Thoma lebt am Dorfrand von Büsingen. Vor der Haustüre liegt ein weisser Fussball am Boden. Dem Sport ist es auch zuzuschreiben, dass Axel Thoma vor gut 20 Jahren nach Büsingen gezogen ist. Damals war er Spieler beim FC Schaffhausen, heute ist er Sportchef beim Grasshopper Club Zürich. Thoma ist viel unterwegs. Büsingen zu verlassen ist für ihn aber kein Thema. «Ich bin nicht ein Typ, der heute hier ist und morgen da. Irgendwann muss man wieder zurückkommen an einen Ort, wo man sich auskennt, wo man entspannen kann, wo man sich wohl fühlt», sagt Thoma.
Auch er weiss von der schwierigen Situation zu berichten. Neben den Steuern sei auch das Leben zwischen der Grenze ein Nachteil, sagt Thoma. «Man passiert laufend Grenzen, wird aufgehalten und muss sich ausweisen. Irgendwann nervt es, wenn man zweimal hintereinander durchsucht wird.»
Die Aussicht könnte kaum besser sein. Büsingen liegt direkt am Rhein. Bild: Boas Ruh
«Die Situation in Büsingen ist einmalig und etwas ganz Besonderes. Dies darf niemand ändern, so muss das immer bleiben.»
Gunnar Lang
Allen Widrigkeiten zum Trotz: Die Büsinger sind stolz auf ihr kleines Dorf mit seiner Sonderstellung. «Die Situation in Büsingen ist einmalig und etwas ganz Besonderes. Dies darf niemand ändern, so muss das immer bleiben», stimmt Ehrenbürger Gunnar Lang einem früheren Schaffhauser Stadtpräsidenten zu. Die deutsche Exklave zu sein, habe auch ihren Reiz. Dies mache Büsingen aussergewöhnlich.
Nicht weit von Gunnar Langs schmuckem Haus am Rhein, bei der Bushaltestelle «Büsingen Bürgerhaus», wartet ein Junge auf den nächsten Bus. Die gleiche Bushaltestelle bedient zwei Buslinien: eine von Schaffhausen und das Regionalbus-Unternehmen der Deutschen Bahn – typisch Büsingen. Da hält ein Bus. Der Junge steigt ein, fährt los. Er fährt mit dem Schweizer Bus in Richtung Schaffhausen. Typisch Büsingen.