Kurz vor Mitternacht des 9. Dezember 2003 sass die CVP-Führungsriege in einem Berner Lokal, mit kreidebleichen Gesichtern. Es war klar: Die CVP hatte die Schlacht um den zweiten Bundesratssitz verloren: Christoph Blocher wurde Bundesrat – statt Ruth Metzler.
Es ist dieses Trauma, das die FDP verhindern will. Mit den Wahlerfolgen von Grünen und GLP wackelt ihr zweiter Bundesratssitz bedenklich. Sollte die FDP nach 2023 nur noch einen Sitz haben, würde das ihr Selbstverständnis in den Grundfesten erschüttern.
Denn der Freisinn ist nicht irgendwer. Er hat den modernen Bundesstaat von 1848 gegründet. Bis 1959 dominierte er den Bundesrat fast nach Belieben – mit mindestens drei Bundesräten.
Hat er nur noch ein Bundesratsmitglied, macht ihn das zur beliebigen Partei. «Sollte die FDP ihren zweiten Sitz verlieren, wäre das wahrscheinlich vergleichbar mit der Situation von 1959», sagt Franz Steinegger, FDP-Präsident von 1989 bis 2001.
Damals installierten CVP und SP die Zauberformel: zwei Sitze für die drei stärksten Parteien, ein Sitz für die viertgrösste. Die FDP musste ihren dritten Sitz an die SP abtreten. Steinegger: «Damit verlor die FDP ihre Machtstellung im Bundesrat.»
Wer mit Freisinnigen über die neue Gefahr spricht, stellt fest: Kaum jemand scheint zu glauben, die FDP könne einen Sitz an Grüne oder GLP verlieren. Bezeichnend dafür ist die Aussage von Vizepräsident Andrea Caroni: «Der wilde Traum der Grünen ist für uns nicht etwa der Albtraum, mit dem wir jeden Morgen schweissgebadet aufwachen, sondern schlicht kein Thema.»
Kann einfach nicht sein, was nicht sein darf? Die Antwort ist simpler. Die FDP vertraut auf das Machtkartell. Insider erzählen, dass sich die Parteien meist vorzeitig verständigen, wie die Sitze verteilt werden. Dazu gehört auch die stille Vereinbarung, dass amtierende Bundesräte nicht abgewählt werden. Und bei der FDP zeigen weder Karin Keller-Sutter noch Ignazio Cassis Anzeichen von Amtsmüdigkeit.
Im Gegenteil. Vor allem Keller-Sutter spielt eine wichtige Rolle im Hintergrund, wenn es darum geht, wer das Präsidium übernimmt. Da es in der Partei ein strategisches Vakuum gibt, hat ihr Wort besonderes Gewicht.
Keller-Sutter machte in einem Interview mit der NZZ klar, was sie von der neuen Präsidentin oder dem Präsidenten erwartet: «Es muss eine führungsstarke Persönlichkeit sein.» Und sie gab auch gleich die inhaltliche Richtung vor. Die FDP müsse sich auf die liberalen Werte besinnen, betonte sie: «Privat vor Staat, Erwirtschaften vor Verteilen, Freiheit vor Gleichheit.»
Recherchen zeigen: Keller-Sutter sprach mit fast allen, die sich für eine Kandidatur interessierten. Das bestätigt Christoph Nufer, Kommunikationschef des Justizdepartements: «Verschiedene mögliche Kandidaten für das Amt des FDP-Präsidiums haben um ein Gespräch mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter gebeten.»
Aus der FDP ist zudem zu hören, Keller-Sutter (und auch Ignazio Cassis) seien von der Findungskommission ebenfalls zu einem Gespräch eingeladen worden. Die Kommission wollte von den beiden Bundesräten wissen, wo sie die Prioritäten setzen.
Bekannt ist zudem, dass Keller-Sutter einen engen Draht pflegt zu Ständerat Thierry Burkart, dem Kronfavoriten für das Präsidium. Burkart spielte bei der Wahl von Keller-Sutter eine wichtige Rolle. Keller-Sutter war allerdings auch «Götti» von Damian Müller nach dessen Wahl in den Ständerat.
Die Bundesrätin weiss: Der neue Präsident muss schnell Tempo aufnehmen, soll die Partei rechtzeitig in die Spur kommen. Es gibt viele Baustellen. So schwächelt das Generalsekretariat, da es in einer Phase des Umbruchs ist. Kritik muss auch Fraktionschef Beat Walti einstecken: Er bringe die Fraktion zu wenig entschlossen auf Kurs, heisst es.
Zudem gilt die Arbeitsethik vieler Freisinniger als eher mangelhaft. Kein Wunder, wünschte sich Keller-Sutter «positiven und konstruktiven Kampfgeist» - und redete ihren Parteikollegen gleich noch ins Gewissen: «Man darf die Debatte nicht scheuen. Man muss den Pelz auch nass machen.»
Klar ist für viele in der Partei: Für den neuen Chef gibt es in den nächsten zwei Jahren nur eines: Er muss sieben Tage und 24 Stunden Vollgas geben, um den Freisinn wieder auf Erfolg zu trimmen. Und um den Bundesratssitz am Ende nicht doch noch zu verlieren.
Es gibt schlicht keine Rechtsbürgerliche Mehrheit in diesem Land. Darum sind 4 Bundesräte für rechts-konservativ mindestens einer zuviel.