Herr Müller, die SVP will Landesrecht in jedem Fall über das Völkerrecht stellen. Eine gute Idee?
Diese Initiative tönt einmal mehr verführerisch. Landesrecht vor Völkerrecht: Wer ist da schon dagegen? Doch sie ist brandgefährlich für unser Land. Es ist – wie so oft bei Volksinitiativen – nicht drin, was draufsteht.
Das müssen Sie erklären.
Wenn wir innerstaatliches, schweizerisches Recht in absolut jedem Fall über das Völkerrecht stellen, dann werden wir ein höchst unzuverlässiger Vertragspartner auf der internationalen Ebene. Für andere Länder würde die Schweiz komplett unberechenbar, weil wir uns das Recht nehmen, Verträge nach Lust und Laune nicht mehr einzuhalten. Das geht nicht. Das ist Gift für unser exportorientiertes Land, das jeden zweiten Franken im Ausland verdient. 55 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Da können wir doch nicht kommen und sagen: Die internationalen Spielregeln sind uns egal.
Die Schweiz wird doch nicht vertragsbrüchig, nur weil wir das Völkerrecht dem Landesrecht unterordnen.
Doch, das ist die praktische Konsequenz. Das Völkerrecht ist aber nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht enorm wichtig für ein kleines Land. Ohne das Völkerrecht herrscht Faustrecht zwischen den Staaten. Die grossen und mächtigen Länder brauchen das Völkerrecht viel weniger als die kleinen. Sie können ihre Interessen auch ohne rechtlichen Rahmen durchsetzen. Es ist daher vollkommen absurd, wenn ausgerechnet die Schweiz das Völkerrecht relativieren sollte. Blocher holt den ganz grossen Holzhammer hervor und schlägt ihn ins eigene Bein.
Selbst die FDP will das Völkerrecht relativieren.
Wir wollen eine klare Rangordnung zwischen einzelnen völkerrechtlichen Bestimmungen. Ein Chriesi-Liefervertrag ist nun mal nicht gleich wichtig wie ein Doppelbesteuerungsabkommen. Da braucht es eine klare Hierarchie, die wir heute zu wenig haben. Völkerrechtliche Verträge, welche dieselbe Bedeutung haben wie eine Verfassungsbestimmung, sollten obligatorisch dem Volk vorgelegt werden.
Können Sie ein Beispiel machen?
Etwa der EWR. Oder dereinst die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge. Solch wichtige Abkommen müssen zwingend vors Volk. Heute ist dies zwar bereits ungeschriebenes Recht. Wir aber wollen diese Abstufung verbindlich festlegen.
Die Initiative der SVP hat ein ganz anderes Ziel. Sie stellt namentlich die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK
infrage.
Die EMRK ist absolut essenziell für die Schweiz. Sie schützt jeden einzelnen Bürger vor staatlicher Willkür. Und sie schützt die Minderheiten. Für die vielsprachige Schweiz mit ihren zahlreichen Minderheiten ist das von herausragender Bedeutung.
Diesen Schutz gewährt doch auch die Bundesverfassung.
Zum Glück. Doch die Verfassung kann jederzeit geändert werden. Wer schützt dann die Bürger und die Minderheiten vor Übergriffen der Mehrheit? Das ist der springende Punkt. Es braucht eine Instanz, die unabhängig von Mehrheitsentscheiden und politischen Launen dafür sorgt, dass die Rechte jedes Individuums nicht angetastet werden. Wir sind auch nicht immer glücklich mit den Entscheiden des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. So wie wir auch nicht immer glücklich sind mit Entscheiden des Bundesgerichts. Das muss man in einer Demokratie mit dem Prinzip der Gewaltenteilung aber akzeptieren.
Der Gerichtshof masst sich immer neue Kompetenzen an, die
ursprünglich nicht vorgesehen waren.
Das ist in der Tat problematisch. Der Gerichtshof für Menschenrechte muss sich nicht zu Fragen der Finanzierung von Geschlechtsumwandlungen oder Details der Sterbehilfe in der Schweiz äussern. Das geht zu weit. Der Bundesrat ist sich dessen bewusst. Auch andere Staaten stören sich an gewissen Kompetenzüberschreitungen. Da muss man auf internationaler Ebene eine Lösung finden. Doch es ist noch lange kein Grund zu sagen, wir treten als einziges westeuropäisches Land aus der EMRK aus. Wir stünden auf derselben Stufe wie Weissrussland. Es ist für mich absolut unvorstellbar, dass ausgerechnet die Schweiz als älteste Demokratie Europas sagt, die Menschenrechte interessieren uns nicht mehr. Stellen Sie sich einmal vor, was dies für unser Image im Ausland bedeuten würde.
Das Image wird doch überbewertet. Mit China wollen alle auch Handel treiben, obwohl es sich um Menschenrechte gänzlich
foutiert.
Sie können doch nicht die Schweiz mit China oder anderen autoritären Ländern vergleichen. Wir haben eine ganz andere Geschichte. Nein, das Image eines Landes ist essenziell, schon wenn es nur um wirtschaftliche Beziehungen geht. Ein Austritt aus der EMRK wäre eine Katastrophe. Jedes Land, jede Firma würde es sich zweimal überlegen, mit uns Geschäfte zu machen. Da geht es dann plötzlich nicht mehr um einzelne Urteile, die uns nerven. Sondern um Tausende Arbeitsplätze, um den Wohlstand des Landes. Die Schweiz wäre international komplett isoliert.
Dann will also Christoph Blocher das Verhältnis zu Europa nachhaltig zerstören?
Wir haben momentan verschiedene Dossiers mit der EU offen, beispielsweise die Neuregelung der Migrationsfragen. Und bei den Verhandlungen über die Weiterentwicklung der Bilateralen hat Christoph Blocher präventiv Hellebarde und Stahlhelm hervorgeholt. Ich sage es so: Es handelt sich um ein gezieltes Störfeuer gegen unser Verhältnis zur EU, unseren mit Abstand wichtigsten Handelspartner. Blocher ist aber leider kein Miraculix, der den Galliern einen Zaubertrank gebrüht hat, um die Römer erfolgreich herauszufordern.
Aber er dreht an der Eskalationsspirale. Die SVP hat bereits eine weitere Asylinitiative im Köcher ...
...welche komplett absurd ist. Ich bin nun wirklich nicht bekannt dafür, dass ich immer mehr Flüchtlinge in die Schweiz holen möchte. Doch diese Initiative ist reine Augenwischerei. Wir haben sämtliche Instrumente, die es braucht, um eine gute Asylpolitik zu machen. Das Volk hat im Juni 2013 eine Asylgesetzrevision mit überwältigender Mehrheit angenommen. Mehr brauchen wir momentan nicht. Man muss nur endlich umsetzen – und zwar rasch und konsequent. Wer nur noch jenen ein Asylgesuch erlaubt, die mit dem Helikopter direkt vor dem Asylzentrum landen, der schafft das Asylrecht ab.
Ausschaffungsinitiative, Masseneinwanderungsinitiative, Landesrecht vor Völkerrecht und Asyl nur noch für Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen: Ist die SVP überhaupt noch regierungsfähig?
Ich würde das nicht überbewerten. Im Bundesrat sitzt ja nicht die ganze Partei, sondern höchstens deren Vertreter.
Sie verharmlosen die Lage.
Die SVP macht systematisch
Opposition.
Die SVP muss immer extremer werden, um ihre Klientel auf Dauer bei Laune zu halten. Wir lösen aber das Problem nicht, wenn wir sie aus der Regierung ausschliessen. Im Gegenteil. Wir müssen sie einbinden.
Blocher einzubinden, funktioniert doch nicht.
Seine Abwahl aus dem Bundesrat war ein kapitaler strategischer Fehler. Die SVP hat sich seither radikalisiert. Es ist nun die Aufgabe der FDP und aller anderen Kräfte, für die Gesamtinteressen der Schweiz – notfalls auch gegen Blocher – zu kämpfen. Wir können das. Der 9. Februar war ein zünftiger Denkzettel für die liberalen Kräfte in diesem Land. Wir müssen die Leute ernst nehmen und ihnen besser erklären, wofür wir stehen.
Wäre ein Konsens darüber, dass die Bilateralen für die Schweiz von zentraler Bedeutung sind, nicht eine Voraussetzung, um überhaupt mitregieren zu
können?
Sehen Sie, unser System funktioniert anders. Die FDP bekämpft die Abschottungspolitik der SVP. Das Verhältnis zu Europa ist viel zu wichtig für die Schweiz, um es auf dem Altar parteipolitischer Interessen zu opfern. Wir sind aber auf der anderen Seite auch nicht glücklich, dass die SP ständig umverteilen will. Und die Familienpolitik der CVP ist aus freisinniger Sicht viel zu teuer. Inhaltliche Übereinstimmung war nie der Hauptantrieb für die Konkordanz.
Die SVP schert aber in einer fundamental wichtigen Frage aus, wie Sie selber sagen. Auch die SP durfte im Zweiten Weltkrieg erst in die Regierung, als sie sich zur Landesverteidigung bekannte.
Grundsätzlich ist die FDP für die arithmetische Konkordanz. Die drei grössten Parteien haben zwei Sitze, die viertgrösste einen Sitz im Bundesrat. Materielle Übereinstimmung ist wünschenswert, aber nicht zwingend. Wenn das Parlament dereinst zum Schluss kommt, dass die SVP mit ihrer Politik substanzielle Interessen der Schweiz gefährdet, dann muss es darüber diskutieren, ob diese Partei noch in die Regierung gehört.
Wann ist dies der Fall?
Das kann ich nicht sagen.
Braucht es in der Zwischenzeit eine Allianz der Pro-Europäer, warum nicht unter Führung der FDP?
Wir sind gegen einen EU-Beitritt. Wir arbeiten mit allen Kräften zusammen, die den bilateralen Weg der Schweiz verteidigen wollen. Dann müssen diese Kräfte aber
aufhören, immer wieder andere Modelle wie den Beitritt zum EWR oder einen schädlichen Verfassungsartikel für die Bilateralen ins Spiel zu bringen. Aber es ist schon so: Es braucht eine Allianz für eine weltoffene, liberale Schweiz. Die SVP führt uns mit ihrer Abschottungspolitik ins Abseits.
Es ist jammerschade, was aus der ehemals staatstragenden Partei geworden ist. Die Rückbesinnung auf echte liberale Werte eine offene Schweiz und eine soziale Marktwirtschaft ist das einzige Rezept, das die FDP aus dieser Misere Führen kann.
Herr Müller suchen Sie dafür echte Unternehmer (nicht Manager) als Mitstreiter und bieten Sie den Rechtsnationalen endlich die Stirn!